Leseprobe
Nottingham, 14. April
»Kommst du, May?«
»Gleich! Gib mir fünf Minuten.«
Die Beine im Schneidersitz verschränkt, sitze ich auf dem Bett und starre wie gebannt auf das Display meines Laptops. Ich bin aufgeregt. Wie jedes Mal, wenn die Kamera auf den Mann schwenkt, den ich einfach nicht vergessen kann. Meine gute Freundin, die Sehnsucht, wühlt in mir und ich frage mich, ob das jemals aufhört.
Im Werbevideo des Luxushotels Glenlaggan Castle tritt der Concierge ins Bild und reicht einer älteren Dame galant den Arm. Nur am Rande höre ich den Sprecher. »Der Concierge ist das Aushängeschild dieses luxuriösen altehrwürdigen Hotels. Tadellose Umgangsformen, perfekte Ortskenntnisse, weitreichende Kontakte, aber auch Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen sind …«
Ich stelle den Ton ab und stoße einen langen Seufzer aus.
Keine drei Monate ist es her, dass ich in genau dieser Lobby gestanden und Emilio die Hand geschüttelt habe. Seine schokoladenbraunen Augen haben mich auf Anhieb umgehauen. Wie schon im Januar trägt er die traditionelle Livree, eine Art Uniform, die aus einem anthrazitfarbenen, auf Maß geschneiderten Anzug besteht, darunter ein weißes Hemd mit dunkelroter Krawatte und auf dem Revers der Anzugjacke ist das Emblem des Hotels gestickt. Seine schwarzen, leicht welligen kurzen Haare sind streng zurückfrisiert und sein Gesicht ist glatt und makellos. Hach, er ist in der Tat ein schöner und kultivierter Mann. Wie bereits Hunderte Male zuvor schmelze ich bei seinem Anblick dahin.
Exakt bei Minute 0:32 stoppe ich das Video. Dem Moment, in dem er direkt in die Kamera lächelt.
Sehnsüchtig fahre ich auf dem Display die Kontur seiner vollen Lippen mit dem Zeigefinger nach. Dort verharre ich einen Moment und stelle mir vor, dass er mich anlächelt, nur mich. Gedankenverloren streiche ich weiter bis zu den Mundwinkeln, die leicht nach oben geschwungen sind. Sie verleihen Emilios Gesichtszügen den Charme des stets dezenten und zuvorkommend lächelnden Concierge.
Ihn irgendwann wiederzusehen und vielleicht diesmal seine vollen Lippen nicht nur auf dem Display zu berühren, bleibt leider nur ein frommer Wunsch. Einer wie Emilio kann an jeder Hand fünf Frauen haben. Außerdem ist das Glenlaggan Castle viele Autostunden von hier entfernt. Erneut seufze ich auf. Zumindest kann ich Emilio sehen, wann immer ich will.
Im Video.
»May!«, ruft Mum erneut. »Kommst du jetzt?«
Mit einem weinenden und einem lachenden Auge klappe ich den Laptop zu. Wenigstens bin ich nicht alleine. Meine Mum ist zu Besuch. Das zweite Mal, seit Gwen auf der Welt ist. Das erste Mal war vor knapp neun Monaten.
Ich trotte ins Kinderzimmer und nehme Gwen aus ihrem Bettchen. Sie wacht nicht einmal auf. Mein Baby schläft tief und fest. Ihr kleines Köpfchen liegt an meiner Brust und am liebsten würde ich sie wecken, um ihr süßes Lächeln zu sehen.
In der Küche duftet es verlockend nach Kindheit. An den Türrahmen gelehnt, sehe ich Mum zu, wie sie die mitgebrachte Schokolade zusammen mit Milch und Chili in einem Topf zum Schmelzen bringt. Ich kann es kaum erwarten, das süße Getränk an die Lippen zu führen, und atme genussvoll das vertraute Aroma ein.
»Kindchen.« Sie deutet mit dem Kinn zu der Tüte Marshmallows auf dem Küchentisch. »Mach dich nützlich, öffne die Packung. Der Kakao ist gleich fertig.«
»Ja, aber … Wenn ich Gwen jetzt wieder ablege, wacht sie vielleicht auf und …«
»Unsinn! Sie kommt nach dir. Und du hast die meiste Zeit deines erstens Lebensjahres schlichtweg verschlafen. Selbst wenn man dich an den Füßen an die Wäscheleine gehängt hätte, wärst du nicht aufgewacht. Lege sie einfach in den Kinderwagen vor die Küche. Den hast du ja bereits für den Spaziergang vorbereitet. Wo sind die Tassen?«
»Dort, wo sie auch letztes Jahr schon standen, im Schrank über der Kaffeemaschine.« Behutsam lege ich die fest schlafende Gwen in den Kombi-Wagen, hauche ihr einen zarten Kuss auf die Stirn – Himmel, sie riecht so gut – und gehe zurück in die Küche.
»Wie soll ich mir über Monate hinweg merken, wo deine Tassen stehen?« Mum wirft mir einen leicht vorwurfsvollen Blick zu. »Hätte ja sein können, dass du mal wieder umgeräumt hast.«
Ich schütte die Marshmallows in eine bauchige Schale. »Ich habe nur einmal umgeräumt, das weißt du genau.«
»Ja, als du diesen Choleriker rausgeworfen hast.«
»Mum!«
»Ist doch wahr!« Ihre Worte untermalend, wedelt sie mit dem Kochlöffel in der Luft. »Darüber könnte ich mich täglich mit wachsender Fassungslosigkeit aufregen. Und wegen dieser verkrachten Existenz bist du in ein anderes Land ausgewandert!«
Ich seufze tief und überlege, was ich darauf antworten soll. Letztendlich entscheide ich mich für einen langen, hoffentlich vielsagenden Blick in ihre Richtung.
»Was hält dich hier nur?« Kopfschüttelnd befeuchtet sie ein Tuch unter dem Wasserhahn und wischt damit in kreisenden Bewegungen über den Herd. »Ja, ich weiß. Ich brauche dich jetzt nicht erneut fragen, ob du vielleicht wieder nach Florida zurückkommen magst. Aber du musst zugeben, dieses Nottingham ist kalt und ungemütlich. Und es regnet mir hier definitiv eine Spur zu häufig.«
Sanft nehme ich ihr das Tuch aus der Hand, drücke ihr einen Kuss auf die Wange und umarme sie. »Aber heute strahlt die Sonne, Mum. Danke, dass du mich besuchst. Das macht mich wirklich glücklich.«
Meine Worte, die ich aus tiefstem Herzen genau so empfinde, verfehlen ihre Wirkung nicht. Denn seit ich Mutter bin, kann ich nachempfinden, wie es sein muss, sein Kind weit weg von zu Hause zu wissen. Ich mag mir partout nicht vorstellen, wie es später ohne Gwen sein wird, wenn sie erwachsen ist, sich verliebt, heiratet und auszieht. Aber das liegt noch weit in der Zukunft.
Mum stellt mir eine gefüllte Tasse auf den Tisch. »Trink deinen Kakao, bevor er kalt wird. Ich nutze die Gelegenheit und gehe mit Gwen in den Park, solange noch Sonne da ist.«
»Viel Spaß euch beiden!«
Ich warte auf den nächsten Satz, der dann auch prompt kommt:
»Aber nicht zu hastig, May, er ist heiß. Nicht, dass du dir die Lippen verbrennst.« Im Flur streckt sie die Arme nach Gwen aus, die aufgewacht ist. »Na, mein kleiner Schatz? Willst du mit Grandma in den Park?«
Gwen jauchzt und zappelt mit allen Gliedmaßen und lachend nimmt meine Mutter sie aus dem Wagen. »Die Tasche ist gerichtet, May? Wasser, gekühlter Beißring, Ersatzwindel?«
»Ja, das volle Programm. Inklusive Brei und Spucktücher. Du findest den Weg zum Park noch?«
»So weit reicht mein Erinnerungsvermögen durchaus, Kleines. Schließlich sind wir den Weg die letzten Tage mehrmals gegangen. Die Straße runter, dann links, die dritte rechts und ich bin da. Ersatzkleidung ist auch eingepackt?«
»Auch das. Sogar ein zweiter Schnuller.«
Ich verdrehe die Augen. Das Nachfragen hört wahrscheinlich nie auf. Nur haben sich jetzt die Prioritäten verlagert. Früher stand ich an erster Stelle und dass ich mir ein Jäckchen – es könnte frisch werden – mitnehmen sollte, heute wird das auf das Enkelkind übertragen.
Es gibt Schlimmeres, kalten Kakao zum Beispiel. Ich lächle.
Kurz darauf geht die Tür und ich bin alleine. Endlich.
Auch wenn ich mit Leib und Seele Mutter bin und meine kleine Gwen über alles liebe, so tut es doch gut, hin und wieder ein paar Stunden nur May zu sein. Und ich bin Mum unendlich dankbar, dass sie mich alle paar Monate besucht.
Das letzte Mal war sie zu Gwens Geburt hier. Ganze sechs Wochen hatte sie sich die Zeit genommen und mich in der Anfangsphase unterstützt und mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Sie und Sarah waren mir in dieser Phase eine große Hilfe. Frisch getrennt und mit einem Baby sah die Welt an manchen Tagen für mich alles andere als rosig aus.
Schade ist nur, dass mein Vater solch eine starke Flugangst hat, dass er durch nichts zu bewegen ist, auch nur einen Fuß in einen Flieger zu setzen.
Ich denke ernsthaft darüber nach, dieses oder nächstes Jahr das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel bei meinen Eltern in DeFuniak Springs zu verbringen. So ein bisschen vermisse ich die putzige Kleinstadt zwischen Pensacola und Tallahassee, und doch würde mich nichts mehr aus Nottingham vertreiben. Hier habe ich Fuß gefasst und fühle mich wohl. Ein Leben ohne Sarah, die Kollegen in der Praxis und ohne das britische Flair kann und mag ich mir aktuell nicht vorstellen. Obwohl, auf meine Chefin könnte ich durchaus verzichten.
Das schrille Geräusch der Türklingel reißt mich aus den Gedanken. Ich sollte dieses furchtbare Teil dringend austauschen.
Besorgt springe ich auf und eile zur Tür. Mum hat einen Schlüssel. Sie hat ihn doch mitgenommen, oder? Ein flüchtiger Blick ans Schlüsselbrett bestätigt mir, dass sie ihn nicht vergessen hat. Aber wer will jetzt etwas von mir? Die Post ist schon durch. Oh Gott! Es wird doch hoffentlich nichts passiert sein? Meine Mutter ist zwar erst achtundfünfzig, aber sie hatte erwähnt, dass sie nicht mehr so optimal hören kann. Was, wenn sie ein Auto nicht kommen gesehen und ein Hupen überhört hat?
Ich reiße die Tür auf.
Und bin erstaunt.
»Was willst du denn hier?!«
»Du reist heute schon ab?« Ich verschränke die Arme hinter meinen Kopf und beobachte, wie das attraktive schwarzhaarige Hollywoodsternchen mit katzengleichen Bewegungen in Jeans, Bluse und High Heels schlüpft.
Genau genommen hätte ich müde sein sollen, doch ich bin hellwach. Kein Wunder, gehöre ich doch zu dem Kreis der Auserwählten, die einmal mit der sexiest woman des Jahres 2017 im Bett waren. Und das, obwohl ich eigentlich kein Mann für eine Nacht bin. Nebenbei bemerkt bin ich aber auch keiner für mehrere Nächte. Aber darüber mag ich jetzt nicht nachdenken.
Ich blinzele aus dem geöffneten Fenster durch die einfallenden Strahlen der aufgehenden Sonne auf die glitzernde Wasseroberfläche des Loch Linnhe. Gedanklich gehe ich bereits den vor mir liegenden Arbeitstag im Glenlaggan Castle durch und freue mich auf die morgendliche Joggingrunde.
»Ja, ich muss ans Set nach Glasgow.« Sie setzt sich auf die Bettkante, beugt sich über mich und haucht einen Kuss auf meine nackte Brust. »Sag mal, bist du echt hier geboren? Wie kommt es, dass ein Highlander eher aussieht wie ein italienischer Gigolo?«
»Lange Geschichte.«
»Tja, dafür habe ich leider die Zeit nicht. Danke für die heiße Nacht. Du bist gut, Emilio Munro. Wirklich gut!«
Verblüfft stelle ich fest, dass ich mich durch ihre dunkel gehauchten Worte zwar in meiner Männlichkeit bestätigt fühle, es damit aber auch gut ist. Ich habe die berühmte Morena Mitchell gevögelt.
Noch während ich überlege, ob ich mir jetzt stolz auf die Schulter klopfen soll, steht Morena auf, streicht sich eine dunkle Strähne hinters Ohr, lächelt und stöckelt aus dem Schlafzimmer.
Ich nicke ihr zu. »Bis irgendwann mal, Mrs. Mitchell. Vielleicht sehe ich mir deinen nächsten Film an.«
»Tu das!«, ruft sie. Kurz darauf höre ich die Haustür ins Schloss fallen.
Nein, ich denke, das werde ich eher nicht tun. Schwülstige Liebesfilme sind nicht mein Ding, ich ziehe dann doch eher harte Actionstreifen vor wie Terminator, Platoon oder auch Fluch der Karibik mit Johnny Depp. Der Schauspieler hat sich bei der Darstellung seines Charakters deutlich von Keith Richards, dem Gitarristen der Rolling Stones, beeinflussen lassen, was mir sehr gefällt, denn nebenbei bin ich ein Fan dieser Band. Und die zuckersüße Keira Knightley ist eine Augenweide. Erst letzte Woche habe ich mir seit langer Zeit mal wieder den ersten Teil angesehen. Und irgendwann ausgeschaltet. Diese Keira erinnerte mich zu sehr an jemanden, an den ich mich nicht mehr erinnern möchte.
Ein weiterer Blick aus dem Fenster bestätigt mir, dass heute ein sonniger Frühlingstag auf mich wartet. Wie geschaffen für eine ausgedehnte Berg-Jogging-Tour. Es ist erst sechs Uhr morgens, ich habe noch bis neun Uhr Zeit.
Eine Stunde später biege ich am Nevis River ab, der eigentlich nur ein Bach ist und den Namen Water of Nevis trägt, und überwinde schnaufend einige alte, zum Teil mit Moos überwachsene Steinstufen. Also achte ich darauf, nicht auf das feuchte, rutschige Moos zu treten, denn eine Verletzung kann ich mir aktuell nicht leisten. Oben angekommen renne ich den schmalen Weg durch Torf, Heide und Felslandschaft entlang, bis ich den weiten, grünen Talboden in der Nähe der Steall Falls erreiche.
Heute habe ich das Bedürfnis, länger zu laufen als die übliche Stunde am Fluss. Meine Muskeln ächzen, meine Oberschenkel brennen und doch ist es genau dieser Schmerz, den ich brauche. Ich muss mich spüren, alles geben, erst dann habe ich das Gefühl zu leben.
Keuchend stütze ich mich mit einer Hand an der kühlen Oberfläche eines fast mannshohen Felsbrockens ab und warte, bis ich wieder Luft holen kann. Endlich kann ich tiefer atmen als bis auf Höhe meiner Brustwarzen, ziehe das verschwitzte Stirnband vom Kopf und drücke den Schweiß heraus. Geschafft.
Ich stehe an der Seilbrücke, die über den Fluss zu den Wasserfällen, den Steall Falls, führt und lediglich aus drei Stahlseilen besteht, einem für die Füße und zwei zum Festhalten – wie in einem Hochseilgarten. Von hier oben hat man eine atemberaubende Aussicht auf die umwerfende Landschaft der schottischen Highlands, auf die weichen Hügel, die Bergkämme auf der gegenüberliegenden Seite. Kurze Zeit lasse ich meinen Blick schweifen, nur so lange, bis sich mein Atem vollständig beruhigt. Hier oben fühle ich mich als Teil einer Natur, wie sie schöner nicht sein kann.
Und ich liebe meinen Job im luxuriösen Glenlaggan Castle. Wer hätte gedacht, dass ich nach vielen Jahren im Ausland und nach unzähligen Hoteljobs, die mich von der Pike auf das Hotelgewerbe haben kennenlernen lassen, letztendlich wieder bei meinen Wurzeln in den schottischen Highlands lande? Auch wenn man mir das nicht unbedingt ansieht, bin ich ein echter Highlander und fühle mich mit dieser einsamen und wild romantischen Landschaft verbunden. Hier ist mein Zuhause. Nirgendwo anders.
Zeit für den Rückweg.
Nach einer ausgiebigen und heißen Dusche werfe ich mir einen weißen Bademantel über, auf dessen Revers das gestickte Logo des Glenlaggan Castle prangt, und bereite mir ein Frühstück zu.
Ich bringe Wasser zum Kochen, rühre Haferflocken hinein und lasse alles zehn Minuten quellen. In der Zwischenzeit röste ich Pinienkerne und Walnüsse in einer Pfanne an, schneide eine Banane in kleine Würfel und reibe einen Apfel darüber. Sorgfältig vermische ich den Porridge mit den Zutaten und runde das Ganze mit Honig ab. Ich habe Hunger. Mein Magen knurrt unwillig. Kein Wunder, fast zwei Stunden Frühsport nach einer heißen Nacht ohne Schlaf fordern sofortige Nahrungsaufnahme.
Und ich könnte Bäume ausreißen. Wahrscheinlich ist es das Adrenalin, das mich auf Trab hält wie einen Hamster im Laufrad. Oder die Vorfreude.
Meine Muskeln sind gespannt und nie zuvor war ich so durchtrainiert und energiegeladen.
Ich bin bereit.
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