Leseprobe Sylt Liebesroman:
Windgeküsst – Sylt, die Liebe und ich
Manchmal ist Liebe leiser.
Eine romantische Serie über schicksalhafte Begegnungen und Neuanfänge auf der beliebten Nordseeinsel Sylt.
Die junge Interior Designerin Lia reist voller Vorfreude und mit einer ordentlichen Portion Lampenfieber nach Sylt, um die Lobby des exklusiven Hotels Hyggeland neu zu gestalten.
Überraschend mit im Gepäck: ihre farbenfrohe Tante Hedi, die felsenfest an Sternenkonstellationen und Schicksal glaubt.
Aber es kommt noch schlimmer. Lia verliebt sich ausgerechnet in den wahrscheinlich attraktivsten Mann der Insel: Den Pilot David. Doch sie wird einen Teufel tun, seiner Einladung zu einem Rundflug zu folgen. Nicht mit ihrer Flugangst. Eher stürzt sie sich die Dünen runter. Doch der charmante David behauptet, er könne ihr Furcht nehmen. Je näher sie diesem interessanten Mann kommt, desto unsicherer wird sie. Ist er wirklich so perfekt für sie, wie er sagt? Kann ein Mann sein Herz so schnell verschenken?
Oder ist alles zu schön, um wahr zu sein?
Zwischen Wellenrauschen, Schäfchenwolken und Friesentorte muss Lia herausfinden, wo die wahre Liebe wirklich liegt.
Und die Antwort trifft sie wie eine Böe am Strand: überraschend, stürmisch und unausweichlich.
Ein lebendiger Inselroman zum Seufzen, Sehnen und Lieben vor der malerischen Dünenlandschaft Sylts.
Vorfreude
Zehn vor sechs Uhr am Abend. Himmel, hoffentlich komme ich nicht zu spät!
Ach was, ich doch nicht! Entgegen dem weitverbreiteten Ruf, der uns Frauen fälschlicherweise anlastete, kam ich stets pünktlich, meistens ein paar Minuten zu früh. Und dann freute ich mich, zuerst eingetroffen zu sein.
Andere schwärmen von Sabbaticals im Hindukusch oder von ihrer Reise zu sich selbst im nepalesischen Schweigekloster. Ich erscheine fünf Minuten zu früh. Und ab morgen tritt die unscheinbare Lia aus ihrem Schattendasein und zack, rauf aufs Podest der fähigsten Interieur-Designerinnen ever.
Zugegeben, dieser Vorsatz war vielleicht ein klein wenig zu hoch gegriffen, doch ich musste mich selbst motivieren und aus dem Loch der unterschätzten Rookies holen. Obwohl, so neu war ich in der Branche nicht, von einem alten Hasen alterstechnisch meilenweit entfernt. Mit Sicherheit katapultiere mich dieser Schritt nicht in die Art Karriere, die mich beruflich durch die Decke schießen lässt, aber immerhin bedeutete der Auftrag auf Sylt ein Schritt in die richtige Richtung.
Fest umfasste ich das Lenkrad und starrte auf der Suche nach einem Parkplatz mit zusammengekniffenen Lippen durch die Windschutzscheibe. Scheibenwischer auf Höchststufe und kein Regenschirm im Auto. Es gab Schlimmeres. Immerhin war der Augustregen warm und wir hatten ihn bitter nötig. Seit Anfang Juli war kein Tropfen vom Himmel gefallen. Tante Hedi würde sagen, wir sollten dankbar sein, denn wir können nicht alles kontrollieren und die Dinge kommen, wann sie wollen. Mal sanft und leise, ein andermal laut und in Strömen.
München-Giesing, der sympathisch-lässige Stadtteil mit Herz, urban, charmant und völlig überparkt. Mittlerweile drehte ich die dritte Runde um den Block, wollte schon entnervt aufgeben und das Treffen mit Leon absagen, als vor mir und in erfreulicher Spucknähe zu Leons Hoftor ein Mini aus einer Parklücke fuhr. Gleichzeitig ließ der Starkregen nach und die Sonne schickte mir einen schwachen Strahl ins gestresste Gemüt.
»O danke, danke, danke«, murmelte ich und steuerte meinen Corsa in die Lücke zwischen einem Transporter und einem fetten SUV.
Es tröpfelte nur noch, ich stieg aus, schulterte meine Tasche und kurz darauf empfing mich die Ruhe des Hinterhofs zu Leons Domizil. Kopfsteinpflaster, schiefe, efeuberankte Mauern, vertrauter Holzgeruch von Leons Werkstatt. Aus einem gekippten Fenster dudelte ein Radio, neben den Mülltonnen stand ein verrostetes Damenrad, das irgendjemand irgendwann vor langer Zeit an die Mauer gestellt und vergessen hatte. Leons Wohnung nahm das komplette Erdgeschoss des Hauses ein, besaß ein angeschlossenes Studio und wirkte so ein bisschen wie die Giesinger Version von Meister Eders Reich. Nur ohne Pumuckl.
Ich klingelte, hörte aber nichts, also hämmerte ich an die Tür. »He, mach auf, ich rieche Spaghetti und Knoblauch. Viel Knoblauch. Also bist du da! Und du hast schon ohne mich mit dem Kochen angefangen, du Verräter!«
Die Tür schob sich auf und Leon grinste mich spitzbübisch an. »Klar, was dachtest du denn, Schwesterchen? Heute ist der letzte Abend vor deiner Abreise. Du hast dir den Service verdient und ich dachte, heute übernehme ich mal die Spaghetti. Manchmal ist es okay, wenn nicht immer alles nach Plan läuft, hm? Aber wenn du unbedingt möchtest, darfst du die Nudeln abschütten.« Er drückte mir einen feuchten, nach Knoblauch duftenden Kuss auf die Wange.
Eigentlich ist Leon mein Cousin, aber wir fühlten uns wie Geschwister. Wahrscheinlich ist das so, wenn man zusammen aufwächst.
»Wie großzügig …« Ich verdrehte gespielt die Augen, lachte, schlüpfte aus den Sneakers und stellte die Tasche daneben ab.
In der Küche dampfte der Topf und ich seufzte innerlich ein bisschen auf, denn viel lieber hätte ich mit Leon zusammen Knoblauch gehackt, Tomaten gewürfelt und dabei plaudernd ein Glas Wein getrunken.
»Tut mir leid, ich wollte heute für dich kochen. Du darfst dich auch mal bedienen lassen.« Er reichte mir eine Gabel zum Testen, ob die Nudeln bereits bissfest waren.
»Ausnahmsweise akzeptiert«, nuschelte ich, fischte eine Nudel aus dem Wasser und schleuderte sie mit einer zackigen Bewegung aus dem Handgelenk gegen die Fliesen. Sie blieb kleben.
»Bissfest«, sagte ich und sah zu, wie Leon die Nudel abpflückte und den Kautest machte.
»Stimmt«, bestätigte er grinsend, rückte mir gentlemanlike den Stuhl vom Tisch weg und legte mir kurz seine Hand auf die Schulter. »Darf ich bitten, kleine Senkrechtstarterin?«
Ich grinste ihn an, stockte einen Moment.
»Weißt du, Leon, du bist nicht nur mein Cousin, sondern auch mein bester Freund. Aber … nicht übertreiben, ja? Senkrechtstarterin. Ha. Ha. Ist nur ein Auftrag, den ich zufälligerweise übernehmen darf.« Ich setzte mich an den gedeckten Küchentisch. Oha, ein Teelicht? Wie ungewöhnlich. Und sogar der Wein war schon entkorkt. Zwischen uns dampften Spaghetti in einer Schüssel und der Topf mit unserer Spezialsoße verströmte einen Duft, der mir schlagartig die Geschmacksknospen auf Empfang stellten. Unsere Soße bestand wie immer lediglich aus Olivenöl, ein wenig Spaghetti-Kochwasser, Parmesan und Knoblauch. Das Rezept empfiehlt für zwei Personen sechs Zehen, wir nahmen das Doppelte. Mindestens.
Ich schenkte uns Rotwein ein und Leon schaufelte mir eine Riesenportion Nudeln auf den Teller.
»O ja, bitte, her damit, ich verhungere!«, stöhnte ich auf.
»Hau rein, ab morgen gibts bei dir vermutlich nur noch Fisch?«
»Blödschinn«, nuschelte ich um die Spaghetti im Mund herum. Gott, ist die Soße genial! Ich schluckte runter und rollte die nächste Portion auf dem Löffel auf. »Sag mal, seit wann gibt es bei dir Kerzenschein? Bist du plötzlich zum Romantiker mutiert oder hast du die geschenkt bekommen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Daphne hat die Kerze gestern mitgebracht. Sie meint, bei mir wäre es so nüchtern und …«
»Wie bitte!?«, unterbrach ich ihn spontan. Menschen ausreden lassen war noch nie meine Stärke. Muss ich dran arbeiten. »Nüchtern ist Glas, Metall, versteckte Lautsprecher und nirgends liegt was rum. Nicht mal Staub. Bei dir ist es supergemütlich. Allein die orangenen Wände im Wohnzimmer strahlen Gemütlichkeit aus. Okay, die moosgrüne Wand in der Küche könntest du mal streichen.«
»Hm, ja, das wollte ich schon lange angehen. Und danke für das Kompliment.« Er lächelte und rieb sich kurz den Nacken.
»Nur die Wahrheit. Also echt! Nüchtern … Ts!« Ich unterstrich jedes Wort mit fuchtelnden Gabelbewegungen, wie ein Dirigent den Taktstock wedelt, um meine Worte zu untermauern.
Leon wohnte nicht, um zu zeigen, sondern um zu atmen. Seine Räume waren ehrlich, unaufgeregt und strahlten Gemütlichkeit aus. So wie er selbst.
Über diesen Gedanken vergaß ich zu essen. Vielleicht, weil ich mich aufregte über Daphnes Aussage und eine wachsende Abneigung gegen Leons hübsche Freundin in mir hoch grollte. Sie passte nicht zu ihm. Äußerlich vielleicht, sonst nicht. Basta! Als Cousine hatte ich auch einen gewissen Grad an Verantwortung ihm gegenüber.
»Ähm, Lia, bist du noch anwesend? Wenn du so weitermachst, drehst du ein Loch in den Löffel.«
»Hm? Klar, bin total bei der Sache. Habe nachgedacht.« Ich stopfte die während meines Gedankenprozesses auf dem Löffel kaltgerollten Spaghetti in den Mund. »Wo war isch? Ah ja. Hier ischd nischds nüschdern und …« Ich hob die Hand, grinste entschuldigend, weil er mich wahrscheinlich nur semigut verstehen konnte, kaute und schluckte runter. »Deine Bude ist farbwarm und harmonisch. Glaub mir, wenn eine das beurteilen kann, dann bin ich das. Zudem riecht es hier herrlich nach Kaffee, altem Holz, Möbelwachs, Leinöl und deinem Aftershave. Okay, manchmal auch nach Essigreiniger.«
»Nur, wenn ich ausnahmsweise mal geputzt habe«, erwähnte er schmunzelnd.
.»Einmal die Woche, oder? Reicht doch. Aber okay … Schön, dass deine Daphne ne Kerze mitgebracht hat. Jetzt hast du eine. Bist du glücklich?«
»Mit der Kerze? Geht so.«
»Mit Daphne.«
»Absolut.«
»Das klingt, als käme danach ein Aber.«
»Quatsch«, erwiderte er und nahm einen Schluck aus dem Glas.
»Mach mir nichts vor, da ist doch was. Ich kenne die steile Falte zwischen deinen Augenbrauen. Raus damit, bevor das Thema gärt und du sauer aufstoßen musst.«
Er grinste und hob schwach eine Schulter, als müsse er sich entschuldigen. »Aktuell diskutieren wir den Jahreswechsel. Sie will über Silvester nach Marrakesch. Irgendein Yoga-Retreat mit Detox und Digital-Time-out. Ich soll mitkommen.«
»Und was willst du? Nein, sag nichts, lass mich raten. Du willst deine Freunde um dich haben und Wein und Raclette?«
»Punktlandung, Schwesterchen.« Er hob das Glas, wir prosteten uns zu. »Aber nun zu dir, Schwesterchen. Du bist nicht hier, um über mich zu reden. Morgen ist deine Abreise nach Sylt. Freust du dich? Bist du ein bisschen ängstlich und wirst du nun fliegen oder …«
»Bist du des Wahnsinns? Natürlich nicht! Du weißt, wie gern ich in ein Flugzeug steige. Außerdem habe ich viel zu viel Gepäck dabei: Stoffmuster, Ordner, Klamotten für alle Jahreszeiten, ist ja schließlich Sylt, Laptop, Schuhe … Du kennst das.«
Er zwinkerte und wischte mir mit der Serviette Soße vom Mundwinkel.
»Nee, kenn ich nicht. Aber Klamotten für alle Jahreszeiten im Hochsommer?«
»War leicht übertrieben. Nebenbei ist der Flug zu teuer, sagt mein Chef, und …«
»Zum Glück, hm?« Er zwinkerte mir wissend zu.
»Ja, allerdings. Ich und fliegen … Eher bekommt man eine Kuh in die Achterbahn. Immerhin hat sich mein Chef im Fieberrausch überwunden, mir seinen Geschäftswagen zu geben. Er kann ja sowieso nirgends hinfahren. Die Männergrippe fesselt ihn ans Bett.«
»Der arme Kerl, still im Auge erglänzt eine Träne für ihn. Sollte er vorher gesund werden, kann er ja seine private Blechbüchse aus der Garage fahren. Ein Porsche Cayenne, oder?«
»Mhm, jap.«
Sinn für Zwischentöne
Knappe zwei Stunden später und nudelsatt stapfte ich die Treppen hoch zur Wohnung meiner Tante.
Was für ein Tag … So eine Abreise war wirklich anstrengend. Freizeitstress pur. Gestern Abend Pizza und Wein, heute Spaghetti Agio e Olio bei Leon und jetzt die letzte Station.
Mein Besuch bei Tante Hedi fühlte sich an, als hätte ich seit meiner letzten Geburtstagskarte mit Glitzer-Yin-Yang-Motiv kein einziges Mal hier reingeschaut. Dabei war es gerade mal zwei Wochen her. Und doch kam es mir vor, als wäre ich viel zu lange weg gewesen.
»Hallo, du süße Jugendzeit«, murmelte ich und schob gähnend den Schlüssel ins Schloss von Tantchens Wohnungstür. Die Glöckchenkette an der Tür bimmelte zart wie ein Soundeffekt aus einem Achtsamkeitspodcast, im Abgang ein klein bisschen passiv-aggressiv. Willkommen zurück, schien sie mir zuzurufen. Aber bitte, bring hier bloß nicht deinen Stress mit rein, ja? Du bist in Hedis Heiligtum.
Kaum im Flur angekommen, empfing mich eine angenehme Kühle inmitten der Augusthitze sowie eine wohlbekannte Duftmischung, angesiedelt zwischen Yogastudio, Hexenküche und Esoterikmarkt. Genauer: Sandelholz, Lavendel und, juhu, Kardamom. Es gibt Tee, Baby! Oh, wie ich Hedis Kardamomtee liebte. Halb Getränk, halb transzendentale Erfahrung. Genau das Richtige nach einer Spaghettiorgie.
Ich steckte den Schlüssel mit dem Mini-Buddha-Anhänger zurück in die Tasche und genoss für einen Moment das vertraute Aroma meiner Jugend. Mit geschlossenen Augen ließ ich das Bouquet meiner ehemals pubertären Daseinskrisen auf mich wirken. Wer braucht schon Therapie, wenn man sich einfach in Hedis Flur stellt und tief durchatmen kann? Niemand. Also ich jedenfalls nicht.
In dieser kleinen Drei-Zimmer-Wohnung in München Maxvorstadt bin ich aufgewachsen, und es hatte sich seit meinem vierzehnten Geburtstag genau überhaupt nichts verändert. Das war der Tag gewesen, an dem ich beschlossen hatte, von nun an nur noch schwarz zu tragen, den Sinn des Lebens in Tagebuchzitaten zu suchen und mich zum ersten Mal unglücklich zu verlieben. Hedi hatte es sofort als Form kreativer Selbstentfaltung interpretiert. Auf den Parkettstäbchen lag noch immer der bunte, orientalische Flickenteppich, links an der Wand stand die chinesische, rote Kommode mit den abgerundeten Ecken, rechts hingen fünf Wandhaken aus Mangoholz in verschiedenen Formen, wie zum Beispiel Fatimas Hand, ein Mandala, ein Lebensbaum, Elefant und eine Lotusblume.
Ich hängte meine Handtasche an Fatima auf, wie ich es schon immer getan hatte, und schnupperte an den beiden Kerzen, die neben der Messingschale mit den hübschen Halbedelsteinen zur Chakraöffnung auf der Kommode standen. Sandelholz und Zimt. Hedis ganzjähriger Weihnachtsduft im Chakra-Style. Ich mochte es sehr. Und was ich wirklich zu schätzen wusste, jaja, das kommt immer erst mit dem Älterwerden: Manche Dinge ändern sich nie. Das hat etwas ungemein Beruhigendes.
Erklärend möchte ich erwähnen, dass ich im Gegensatz zu Tantchen ungefähr so spirituell angehaucht bin wie ein belegtes Wurstbrot. Ohne Gürkchen. Oder ne Trittleiter im Steinkreis oder … Egal. Hedi schwebte manchmal so sehr in ihrer sphärischen Esoterikwolke, dass die Räucherstäbchen sich vor Neid selbst entzündeten. Und da Töchter oder Nichten wie ich grundsätzlich und ganz unbedingt anders werden wollten, wie ihre weiblichen Erziehungsberechtigten, hatte ich es als Teenager sozusagen als ureigenste Pflicht empfunden, dem Aura-Aroma und dem ganzen esoterischen Gedöns den Rücken zu kehren.
Während Tantchen mit ihrer Klangschale Gespräche geführt hatte, plauderte ich mit meinem Tamagotchi. Während sie Energien erfühlte, spürte ich WLAN-Ausfall und Heißhunger auf Fertigpizza und saure Stangen. Hedi räucherte ihr Zimmer aus, ich rauchte als Sechzehnjährige heimlich aus dem Fenster. Damals hatte ich mich permanent für Hedi geschämt. Eine Tatsache, die ich heute nur noch im Ansatz nachvollziehen konnte. Für mich hatte meine Tante immer geklungen wie ein spirituelles Sprachmemo in Slowmotion, wenn auch mit angenehm warmer Stimme, und bei den Elternabenden hatte sie stets ihre weihrauchduftausströmende Jutetasche dabei. Aufschrift: Atme Liebe, nicht Mathe. Ultrapeinlich für ein Mädchen, das sich nicht traute, Freundinnen mit nach Hause zu nehmen, bis über die künstlichen Wimpern im WLAN-Modus steckte und hormonell auf TikTok-Level dümpelte. Ich wollte Datenvolumen, keine Mondphasen. Tja, so war das in der Ära des Zicken-Zenits und des Alles-anders-Machens, wobei der familiär emotionale Höhepunkt konstant pendelte zwischen »Du verstehst mich nie!« und »Kann ich Geld haben?«. Hedi redete auch heute noch mit Pflanzen, trug fließende Klamotten in Erdtönen oder in Grellbunt und ging bevorzugt barfuß, auch im Winter. Ich hatte grundsätzlich Schwarz am Körper und Doc Martens an den Füßen, sogar im Sommer. Hedi hatte nie versucht, mir meine modischen Fehltritte auszureden.
Tja, was soll ich sagen? Heute sah meine Sicht auf meine sonderbare Tante völlig anders aus. Ein schleichender Prozess. Man wurde ja älter, vernünftiger, weiser … Okay, okay, von der Weisheit war ich noch ein ganzes Stück entfernt, wahrscheinlich vierzig Jahre oder so. Inzwischen liebte ich Hedis sanfte und schräge Art, fühlte mich pudelwohl und geborgen, wenn ich in die bunte, mit riesigen Mandalatüchern an den Wänden behängte Wohnhöhle kam. Ich kuschelte mich zu gern mit angezogenen Knien und einer Tasse Tee in den Händen auf das dunkelrote Samtsofa, das nicht im Wohnzimmer stand, sondern in der Küche, und lauschte teils fasziniert, teils amüsiert bis verwundert ihren manchmal zehnminütigen Monologen über aktuelle Sternenkonstellationen, rückläufige Planeten sowie der energetischen und reinigenden Wirkung von Salz. Bitte verratet es nicht weiter, aber heute bade ich mindestens einmal im Monat in Meersalz, zünde die weiße Kerze am Badewannenrand an und schicke Hedi ein Herz-Emoji mit Foto von meinen Füßen im Kerzenschein.
Füße … Da war doch noch was? Ah ja, ich musste vor meiner Abreise auf die Insel unbedingt die Fußnägel neu lackieren. Diese Prozedur schob ich immer so lange hinaus, bis nur noch Fragmente von Farbe auf den Nägeln das Lied von einst perfekt manikürten Nägeln säuselten. Also heute Abend. Oder doch morgen im Hotelzimmer, wenn ich angekommen war? Aber vielleicht fehlte mir dann die Zeit? Und die Muße. Oder beides. Also doch heute Abend. Seufz …
Ich schlüpfte aus den Sneakers und stellte sie ordentlich auf die Schuhmatte.
Vielleicht war Tantchen nie peinlich gewesen und ich einfach nur eine nervige Pubertierende, hormonell allergisch gegen alles, was nach Salbei roch? Diese Salbeibündel lagen überall in kleinen Messingschalen herum und Hedi benutzte sie regelmäßig zur Reinigung und Klärung von Aura und Räumen sowie zur Meditation. Ein Aroma, das mich damals noch vor Tantchen begrüßt hatte, als ich im zarten Alter von vierzehn bei ihr, meiner einzigen Verwandten, eingezogen war. Weg aus Hamburg, weg von meinen Freunden. Adieu, winzige Eigentumswohnung mit Blick auf einen faden Hinterhof, in dem die Mülltonnen stets überfüllt gewesen waren.
Adieu, Papa.
Leider hatte er sich mit seinem tiefergelegten Wagen um einen Baum gewickelt. Der Baum hats überlebt, mein Vater nicht. Das war nur eine Frage der Zeit gewesen, denn sein Fahrstil hatte schon meiner Mutter das Leben gekostet – und meines fast. Aber da war ich drei Jahre alt gewesen und der Unfall, bei dem wir uns mehrfach überschlagen hatten, ist mir nicht in Erinnerung geblieben. Genauso wenig wie meine Mutter, die ich nur von wenigen Bildern kannte. Wir hatten uns sehr ähnlich gesehen. Die gleichen dunkelblonden, leicht welligen und etwas zu dünnen Haare und blaugrüne Augen mit goldenen Sprenkeln darin. Das kleine Album mit ihren und unseren gemeinsamen Bildern hütete ich wie meinen größten Schatz.
Mit der Zeit war Hamburg immer mehr in mir verblasst, der Verkauf der Wohnung hatte mir ein kleines Polster auf dem Konto verschafft, und Papa hatte mir wenige, aber bleibende, Erinnerungen hinterlassen. Wie zum Beispiel seine ständige Abwesenheit, auch an Wochenenden, und das Kennenlernen verschiedener Frauen, die jedoch das Weite suchten, wenn sie mich kleine Rebellin kennengelernt hatten. Damals hatte ich keine anderen Göttinnen neben mir akzeptiert. Schließlich war ich Papas Prinzessin, und die wollte ich auch bleiben und seine einzige sein. So hatte er es mir zumindest liebevoll erklärt, wenn mal wieder eine Frau Reißaus genommen hatte.
So, weg mit miesen Gedanken. Auf mich wartete Großes. Vorab Kardamomtee mit Honig, Ingwer und Zimt und eine herzerfrischende Portion Hedi.
Tief nahm ich eine Nase voll Wohnungsaroma, die in jeder Ritze dieser schönen Altbauwohnung steckte, und wünschte mich einen Moment in meine unbeschwerte Vergangenheit zurück.
Sind wir jung, wünschen wir uns, erwachsen zu sein und tun und lassen zu können, was wir wollen. Ein Ziel wie gezuckerte Erdbeeren mit Schlagsahne. Haben wir dann diesen erstrebenswerten Zustand erreicht, eine eigene Wohnung und die vermeintlich vollumfängliche Herrschaft über das eigene Leben, merken wir, dass damit lediglich die Freizeit gemeint ist. Nun, so hat jedes Alter seine Herausforderung. Sich darüber Gedanken zu machen, war überflüssig. Tante Hedi sagte immer: Es kommt, wie es kommt. Nur wie es kommt, bestimmst du mit deiner Ausstrahlung. Was du denkst, strahlst du aus. Was du ausstrahlst, ziehst du an.
Und was strahlte ich gerade aus? Ich blickte in den großen, goldumrahmten Spiegel im Flur. Ganz klar: Dauerverkrampfte Endzwanzigerin mit begrenzter Aussicht auf Karriere, heißen Sex und Kuschelmomente mit meinem Seelenpartner vor dem Fernseher. Inklusive Pizza mit doppelt Käse und Artischocken.
Ich runzelte die Stirn und konzentrierte mich auf mein heute ungeschminktes Gesicht, eingerahmt von ungewaschenen Fransen. Zum Glück war das Licht in Hedis Flur nicht so grell und ließ mein fahles Gesichtsgrau nicht ganz so furchtbar aussehen. Zwei fast durchgearbeitete Nächte hinterließen ihre Spuren. Packstress, bloß nichts vergessen, Unmengen Kaffee, Schokolade und Wiener Würstchen. Inklusive einer spontanen Vertiefung der kleinen, senkrechten Falte zwischen den Augenbrauen, die ich wohl nie wieder wegbekam.
Mein ungeschöntes Fazit: Dauerangespannte und überarbeitete Mittzwanzigerin mit Tendenz Richtung dreißig und dem Schild auf der Stirn: Ewig Single und ansonsten ziemlich konzentriert, aber hasenherzig unterwegs.
Warum zog ich eigentlich immer nur Arschloch-Männer an?
Ich seufzte. Irgendwas ist ja immer …
Entschlossen drehte ich mich vom Spiegel weg und versuchte, mir einzureden, dass ich gar nicht nervös war wegen morgen.
Du lieber Himmel, ich stand nur noch wenige Stunden vor dem Beginn eines neuen Auftrags. Korrektur. Und das war nicht nur irgendein neuer Auftrag, wie ich in den letzten Monaten einige hatte, wie zum Beispiel die Einrichtung eines Großraumbüros, die Gestaltung eines kleinen Nagelstudios, dessen Besitzerin absolut kein Händchen für Farben, Stoffe und null Gespür für die harmonische Gestaltung von Innenräumen hatte. Bei all diesen Aufträgen durfte ich leider nur virtuell im Hintergrund wirken.
Aber diesmal nicht! Ein drei Mal getrommeltes Juhu! Jetzt würde Till, mein Chef, merken, was ich draufhatte!
Dieser Job war besonders. Anders. Ultimativ. Vielleicht, weil ich endlich direkt beim Kunden sein konnte und ich mich von meinem Boss zum ersten Mal wertgeschätzt fühlte? Andererseits hätte er das Hyggeland-Projekt ja auch nach hinten verschieben können, bis er wieder gesund war, um dann die Gestaltung der Lobby des Hotels Hyggeland wie geplant selbst zu übernehmen. Was ich eigentlich auch erwartet hatte.
Ach je, manchmal fragte ich mich, ob ich beruflich jemals mehr sein werde als Tills Background-Character? Ja, ich war fleißig, kompetent, zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk und schob täglich mindestens eine Überstunde. Aber ich stand eben nie im Rampenlicht. Korrigiere: Hatte nie gestanden.
Und jetzt verschaffte mir die Grippeerkrankung meines Chefs die Chance, mich zu beweisen.
Ob ich mich schlecht fühlte, weil er krank war und ich nur deswegen fahren durfte? Ja, so ein bisschen schon. Und ich fürchtete mich vor der langen Autofahrt. Noch nie hatte ich so lange hinter dem Steuer gesessen.
»Autsch!« Auf dem Weg ins Wohnzimmer blieb ich mit dem großen Zeh an der Teppichkante hängen. Offenbar schlurfte ich beim Denken.
»Huhu, Lia. Zieh die Schuhe aus, bitte«, hörte ich Hedi mit ihrer noch immer jugendlichen Stimme, obwohl sie schon Mitte sechzig war, aus der Küche rufen.
»Ist erledigt, Tantchen«, rief ich zurück und grinste, weil sie das immer sagte.
Die Küche roch nach Kardamom, frisch geriebenem Ingwer und Zitrone. Vor dem Sofa, das unterhalb des hohen Sprossenfensters einen zentralen und würdigen Platz einnahm, stand der runde, schiefe Weichholztisch, darauf zwei dickbauchige Tassen mit Blümchenmuster.
Tante Hedi schien völlig versunken in den Prozess des Tee-Einschenkens. Ihre Füße nackt, um ihre Hüften ein langer Leinenrock in Aubergine, bauchfreies Top mit Fransen, darüber ein offen stehender Kimono mit Seerosenmuster. Ihre schulterlangen Haare, silberblond mit einem Hauch Lavendel in der ein oder anderen Strähne, hielt sie mit einem bunten Haarband im Bella-Hadid-Style in Schach. An ihrem Handgelenk baumelte der etwas zu große Armreif aus Kupfer, den sie mal auf einem Basar in Essaouira gefunden hatte, an ihrem Ringfinger der Ehering und daneben am Mittelfinger ein goldener Ring mit einem kleinen Achatstein, der ihr Schutz gab, wie sie sagte. Hedi trug nur Schmuck mit einer Geschichte. Und keine Uhren. In der ganzen Wohnung gab es nicht eine einzige. Zum Glück hatte ich damals ein Handy gehabt, sonst wäre ich wahrscheinlich ständig zu spät zum Unterricht gekommen.
Mit entrücktem Blick und einem leisen Lächeln in den Mundwinkeln rührte Tantchen je einen Würfel braunen Zucker in den Tee, und ich wusste, sie schwebte gedanklich vermutlich bei ihrem Mann, der schon ein paar Jahre nicht mehr lebte. Er starb viel zu früh, mit 52 Jahren. Ein Jahr bevor mein Vater beschlossen hatte, mit Vollgas an eine uralte Eiche zu brettern.
Leise, um Hedi nicht in ihrer Erinnerung zu stören, setzte ich mich im Schneidersitz aufs Sofa und nahm das flauschige Fellkissen in den Arm.
»Weißt du noch, damals?«, begann sie plötzlich, lächelte mich an, setzte sich auf den wackeligen Stuhl vom Flohmarkt und schob mir eine Tasse rüber. »Du hattest die Jacke von deinem Vater an. Drei Nummern zu groß. Und trotzdem hast du keinen Schritt gezögert.«
»Ich erinnere mich noch gut«, gab ich leise zurück, merkte, wie sich ein nostalgisches Lächeln um meine Mundwinkel legte, und rutschte auf dem Sofa ganz nach vorn, um an die Tasse zu kommen. Das Sofa war tiefer als ein Stuhl. Praktische Brusthöhe. So konnte ich mir, wenn ich wollte, das Essen vom Teller direkt in den Mund schaufeln. »Damals hatte ich keine andere Wahl. Und keinen anderen Ort. Und ich bin zur besten Tante der Welt gekommen.«
»Danke, mein Herz«, erwiderte sie liebevoll. »Wahl, Ort … Das ist bedeutungslos. Wichtig war, du hattest Mut. Den erkennt man immer erst rückwärts. Tief in dir bist du ein Kämpferherz. Warst es schon immer. Hast du eigentlich die Jacke noch?« Sie nippte am Tee, ich tat es ihr gleich und bezweifelte das mit dem Kämpferherz stark, sagte aber nichts.
»Ja, hängt im Schrank. Müsste sie mal mit Lederfett behandeln.« Ich hatte sie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr getragen. Sie hing am Ende der Jackenreihe als Erinnerung an Papa.
Hedi legte leicht den Kopf zur Seite und sah mich mit diesem vertrauten Blick an, der mir stets sagte: Ich weiß, was in dir vorgeht, Kleines. Dann wechselte sie das Thema.
»Hast du was von Leon gehört? Der untreue Bengel hat sich schon seit einer Woche nicht mehr gemeldet. Ja, ich weiß, der Lausejunge ist erwachsen und führt sein eigenes Leben. Aber mein geschulter Instinkt sagt mir, wenn sich der Löwe-Mond mit dem Pluto-Vibe vermischt, dann heißt das für sensible Seelen wie Leon absolute Funkstille. Der Junge ist wahrscheinlich gerade im emotionalen Flugmodus. Not available. Weder per Handy noch per Gefühl. Und weißt du, warum? Weil Saturn ihm gerade irgendein Dilemma auf einem kosmischen Tablett serviert. Mit einem Klecks Selbstzweifel und einer Portion ›wie zur Hölle krieg ich das auf die Reihe‹?« Sie hob ihre Tasse mit beiden Händen und pustete leicht hinein. »Erst zum Sonnenaufgang habe ich meine Kristalle neu sortiert. Nach Schwingungsintensität, und stell dir vor, beim Salbei-Räuchern schlängelte sich der weiße Rauch herzförmig zur Decke. Das hat etwas zu bedeuten. Wenn ich nur wüsste, was. Ich könnte ihm die Karten legen … Nein, ich tu es nicht. Die Sterne deuten auf sanften Rückzug. Ich geb dem Bengel noch zwei Tage, dann schreibe ich ihm eine Nachricht mit Herzchen und Kuss-Emojis. Oder bringe ich ihm gleich mein ›Lass die Mauern fallen‹-Öl? Hat bei meiner Nachbarin auch Wunder gewirkt. Seitdem spricht sie wieder mit ihrer Yucca. Ach du liebe Beltane, kann es sein, dass ich unhöflich bin? Oh, meine Perle, das tut mir so leid.« Sie nahm über den Tisch hinweg meine Hand. »Jetzt bist du dran.« Sie winkte ab und schüttelte lächelnd über sich selbst den Kopf. »Deine große Reise steht bevor. Wie geht es dir damit?«
Während ihrer Ausführung dachte ich daran, wie Leon vermutlich Silvester verbringen würde und wie verblüffend Hedi ins Schwarze treffen konnte.
»Hm?«
»Freust du dich schon auf Sylt?«
»Äh, ja, denke ich. Aber noch kurz zu Leon, damit du beruhigt bist. Ich war vorhin bei ihm. Wir haben Spaghetti gegessen und er geht vielleicht über den Jahreswechsel mit Daphne auf so ein Retreat nach … Öhm, spontan vergessen, wohin.« Der fragende Blick meiner Tante ließ mich eine Erklärung hinterherschieben. »Daphne ist seine neue Freundin. Blond, schlank, trainiert, läuft rum wie frisch geleckt und ist immer supergestylt. Hab sie zweimal flüchtig gesehen.«
»Ach, wie wunderbar, er hat eine Liebe gefunden, das freut mich für ihn. Und dir, Mädchen, dir würde ein Mann auch mal wieder guttun. Du brauchst ein bisschen Dopamin und Oxytocin.«
»Oxy…was?«
»Kuschelhormon. Manche schaffen sich dafür Haustiere an. Aber wenn du mich fragst, ist das nicht das Gleiche.«
»Tja, äh, also das mit dem Oxidings muss warten. Ich hab nicht mal Zeit für einen Quickie.«
Amüsiert zog sie die Brauen hoch. »Das meinte ich zwar nicht, aber deine Interpretation lässt ahnen, dass du gerade nicht bereit bist für eine feste Beziehung. Aber das kommt.« In diesem Moment richtete sich ihr Blick nach innen und ihre Gesichtszüge wurden weich. »Du wirst einen wunderbaren Mann an deiner Seite haben, der dich zum Klingen bringt, der jedes einzelne Molekül deines Körpers erbeben lässt, einen, mit dem du lachen, träumen und du selbst sein kannst. Einen, bei dem du dich fallen lassen kannst und Dinge an dir entdeckst, die nur er zutage bringen wird.« Jetzt sah sie mich wieder an. »Blümchen, wenn es an der Zeit ist, wirst du wissen, wer es ist. Hach ja, kommt Zeit, kommt Liebe.« Sie zuckte grinsend mit den Schultern. »Jetzt reist du erst einmal für deine kleine, renommierte Agentur nach Sylt. Wie heißt der Laden noch mal?« Manchmal war sie ein bisschen zerstreut.
»Studio Welcker & Raum.« Ich drehte die Tasse in meinen Händen und schwebte gedanklich bei dem von Hedi vorausgesagten Traummann. Aus welcher Sternenkonstellation sie das wohl gelesen hatte? Ich fragte besser nicht nach, sonst würde der Abend kein Ende nehmen. Definitiv hatte ich jedoch nach der letzten Männererfahrung erst einmal die Nase voll. Und Kennenlernphasen waren anstrengend, zeitraubend und zermürbend. Vielleicht empfand ich auch nur die meisten Männer als langweilig? Egal, jetzt lag meine Priorität sowieso ganz woanders.
»Lia? Bist du noch anwesend?«
»Hm?« Ich blickte hoch. »Äh, klar. Studio Welcker & Raum.«
»Das hattest du bereits gesagt. Jetzt erinnere ich mich auch wieder an den Namen deines Chefs. Till Welcker. Bei der Jubiläumsfeier letztes Jahr hatte er mir seine Karte gegeben. Keine Ahnung, wo ich die hingelegt habe. Ein auf den ersten Blick faszinierender Charakter. Bestimmt ein Skorpion. Oder Löwe.«
»Er hat im November Geburtstag«, half ich ihr, und sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Wusste ich es doch. Ein Skorpion. Das erklärt einiges. Nicht alles, aber so manches. Aber das ist nicht wichtig. Hattest du nicht gesagt, er ist krank? Grippe? Ah ja, meine grauen Zellen sind nicht ganz abgestorben. Nun, auf dass er schnell genesen möge. Die Sekretärin Romy ist noch da? Schön. Weißt du, ich finde, es wird Zeit, dass du der Welt und deinem leicht narzisstischen Vorgesetzten zeigst, was du draufhast.«
»Narzisstisch?« Ich runzelte die Stirn. »Er ist gut in seinem Job und …«
»Nicht so gut wie du.«
Ich verschluckte mich fast am Tee. »Hedi, der Mann hat Architektur studiert!«
»Na und?« Energisch rührte sie mit dem Löffel in der Tasse. »Das qualifiziert ihn zwar auf dem Papier, aber schenkt ihm noch lange nicht das Gespür für Farben und für das Unausgesprochene eines Raumes. Nicht nur sehen, was da ist, sondern spüren, was fehlt. Du weißt, was ich meine. Er hat keinen Riecher für die Zwischentöne. Zwar schreibt er sich gern Ästhetische Lebensräume auf die Visitenkarte, aber letztendlich bist du es, die ihm alles auf dem goldenen Tablett serviert und der Ästhetik Leben einhaucht. Und er verkauft deine Arbeit als seine eigene Kreativität. Im Klartext: Er übernimmt die spannenden, prestigeträchtigen Projekte selbst und überlässt dir die Schreibtischarbeit.« Hedi redete sich in Rage, wie immer, wenn es um meinen Job ging. Zum Glück schwenkte sie um. »Aber was ich eigentlich sagen wollte: Keine Sorge, meine Tulpe, du wirst das rocken, bravourös meistern, fulminant punkten. Stopp, kein Veto, bitte. Ich spüre das. Du lebst deinen Beruf, erledigst deine Arbeit gewissenhaft und präzise. Fast ein bisschen zu pedantisch, will ich meinen. Aber du machst aus grauen Demotivationslöchern lebendig harmonische Räume. Du weißt, dass du mehr kannst, viel mehr, traust dich aber nicht, entsprechende Forderungen zu stellen.«
Ich richtete mich auf. »Klar trau ich mich, es ist nur … nur …« Hatte sie recht? Möglich. Eine gute Anstellung lässt sich nicht so leicht finden und die aktuelle wollte ich demnach möglichst lange behalten.
»Ich verstehe. Manchmal ist es einfacher, im Schatten zu bleiben. Und doch hast du es verdient …« Sie legte eine kurze Pause ein, wahrscheinlich suchte sie nach den richtigen Worten. »Du solltest dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Du darfst gesehen werden, du darfst glänzen. Und sobald du dein Leuchten annimmst, verändert sich alles. Guck mich nicht so skeptisch an, ich will damit nur sagen, dass manchmal der Flügelschlag eines Schmetterlings die Welt verändern kann. Gut, das ist jetzt wenig metaphorisch, ich weiß. Nicht so wichtig. Denn jetzt …« Sie sprang abrupt auf, umrundete den Tisch, plumpste neben mich aufs Sofa und nahm mich fest in den Arm. »Jetzt ertönt dein Gong in die Zukunft. Und ganz ehrlich, Tulpe? Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, dass dein Chef krank ist. Eine Grippe ist kein Todesurteil für einen fitten Mann in den Vierzigern.«
»Hab ich auch nicht«, schwindelte ich nuschelnd an ihrer Brust, weil sie mich so fest hielt, dass ich kaum Luft bekam. Ich mochte ihren Veilchenduft. Und es tat gut, von ihr gelobt zu werden. Auch, wenn sie manchmal Quark redete.
»Noch einen Tee?« Sie tätschelte mir den Oberschenkel, stand auf und zwinkerte mir zu. Ich nickte, ohne sie anzusehen, denn gedanklich driftete ich gerade ab nach Sylt. Mein Auftrag, meine Gunst der Stunde. Und die werde ich verdammt noch mal nutzen. Ich werde glänzen. Jawohl!
»Ich mags, wenn du dich freust«, holte mich Hedi in die Realität zurück und schenkte mir Tee nach. »Deine Hände zittern leicht und du leuchtest immer so schön, wenn du dich auf etwas freust. Ich liebe es, wenn du diesen sanften Schimmer in deinen Augen hast. Das ist die echte Lia. Nicht die Frau im Profi-Modus mit der glatten Stimme, sondern du.«
Glatte Stimme? Echt? Wow! Ich klopfte mir mental auf die Schulter. Andererseits verleitet zu viel Lob zu unangemessenen Höhenflügen. Immer schön auf dem Teppich bleiben.
»Sag mal, bist du heute nicht normalerweise im Kundalini-Yoga?«, versuchte ich das Gespräch weg von mir zu lenken. Ehrlich gesagt war es mir unangenehm, so in den Himmel gehoben zu werden.
»Heute wäre Yin-Yoga, aber ich habe abgesagt. Unter anderem, weil ich noch eine Menge vorzubereiten habe.«
»Ah, und was?« Ich war leicht irritiert. Meine Tante verzichtete nur unter Androhung von lebenslangem Salbeientzug auf ihr Yoga, und in der Regel antwortete sie auf Fragen klar und eindeutig. Diesmal jedoch zog eine leichte Röte über ihre Wangen. Huch? War da etwa ein Mann im Spiel? Wie sehr würde ich ihr wünschen, eine zweite große Liebe zu finden. Obwohl … konnte man finden, wenn man gar nicht suchte? Vielleicht hatte er ja sie gefunden?
Immer noch keine Antwort. Stattdessen: »Möchtest du ein wenig mehr Ingwer im Tee?«
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