Leseprobe

Irish Hope – Wer die Liebe nicht sucht

Irish Hope Wer die Liebe nicht sucht Jo Berger

Diese Story wird dich in ein Karussell der Gefühle werfen.

Wer meine Romane kennt, weiß, dass ich alles gebe, meine Leser nicht einfach nur Lesen zu lassen. Mittendrin statt nur dabei. Mitfühlen, mitlachen, mitseufzen. Es kommt durchaus vor, dass ich mich nicht nur gedanklich, auch körperlich in die Lage meiner Protagonisten versetze, um sie überzeugend agieren zu lassen. Für diesen Roman habe ich tatsächlich und rein zufällig klatschnass an einer Klippe gesessen und bin absichtlich nah an den Rand, um die Faszination aber auch die Angst zu fühlen, wenn man in die Tiefe blickt. Dieser Moment gab mir die Inspiration für eine bestimmte Szene. Du wirst es lesen.
Auch habe mich erinnert, wie wunderbar und unsagbar emotional es ist, ein neues Leben unter dem Herzen zu spüren. Und zu begreifen, dass jede Liebe anders und so unterschiedlich ist, wie die Menschen, die zueinanderfinden.

Kapitel 1

AERYN

Besondere Ereignisse fragen nicht nach der Uhrzeit.
Mitten in der Nacht bringt mich ein Taxi zu meiner Freundin Emily in den Stadtteil West Meadows, eine der besseren Wohngegenden in Tampa, Florida. Mit dem eigenen Wagen quer durch die halbe Stadt zu fahren, habe ich mir nicht zugetraut. Wer weiß, ob ich einen Unfall gebaut hätte. Wenn man nicht mehr aufhören kann zu heulen, sollte man sich möglichst nicht hinter ein Steuer setzen.
Der Taxifahrer hält vor dem Haus meiner Freundin Emily und lädt den Rollkoffer aus, den ich vor einer knappen Stunde hastig gepackt habe.
»Möchten Sie, dass ich den Koffer hochtrage, Miss?«
Ich schüttele den Kopf. »Danke, nein, sehr lieb von Ihnen, aber das kann ich schon selbst.« Mir ein Lächeln abringend drücke ich ihm zwanzig Dollar in die Hand.
Der Koffer ist schwerer, als ich dachte. Dabei ist ja nicht viel drin, nur das Nötigste. Das, was man eben so hineinwirft, wenn es schnell gehen muss und man nur das Wichtigste mitnehmen will.
Vor der Tür packt mich dann doch ein schlechtes Gewissen.
Wahrscheinlich schläft Emily schon, denn ich sehe kein Licht im Haus. Hoffentlich nimmt sie mir nicht übel, wenn ich sie wecke. Aber wo sollte ich sonst hin? Meine Eltern leben in Dublin, das ist für heute Nacht ein bisschen weit. Zudem würde ich auf die Schnelle wahrscheinlich keinen Flug bekommen, wenn ich zu meinen Eltern wollen würde.
Wenigstens ist morgen Samstag und Emily und ich brauchen nicht zu arbeiten. Sie wird also nicht unausgeschlafen im Kosmetikstudio aufschlagen müssen. Und ich im Übrigen auch nicht.
Zaghaft drücke ich auf die Klingel und warte angespannt, bis ich durch das Fenster das Licht angehen sehe. Immer wieder blicke ich über die Schulter, rechne damit, dass Greg mir gefolgt ist.
Endlich bewegt sich die Gardine am Küchenfenster und ich höre Emily ungläubig meinen Namen rufen. Kurz darauf öffnet sie die Tür.
»Um Gottes willen, was ist denn mit dir passiert!? Du siehst ja total verheult aus. Und was ist das da unter deinem Auge? Ach, komm erst mal rein, Süße.« Während sie redet, nimmt sie mir den Trolley aus der Hand und zieht mich ins Haus. »Hast du es endlich geschafft, diesen Arsch zu verlassen?«
Eigentlich will ich was sagen, doch ein erneutes Schluchzen schüttelt mich durch und die Tränen rinnen mir in Bächen über die Wangen. Also nicke ich nur.
Sie dirigiert mich mit besorgtem Blick in die Wohnküche und drückt mich auf einen Stuhl. Dann hält sie ein Geschirrtuch unter kaltes Wasser, wringt es aus und gibt es mir.
»Hier. Leg dir das unters Auge. Lieber Himmel, das wird ein fettes Veilchen geben. War er das etwa!?«
»Ja …«, quetsche ich hervor. »Ich hätte nie gedacht, dass er so etwas tun würde.«
»Echt jetzt? Der Typ hat dich geschlagen? O Mann … Der soll sich bloß nicht trauen, hier aufzutauchen! So eine erbärmliche Ratte! Frauen schlagen … Das kann er, der Schnösel!«
Endlich lässt das fast schon zwanghafte Zucken meiner Schultern nach. Tief hole ich Luft.
»Du hast immer gesagt, dass so was irgendwann passieren könnte, Em.«
Emily zieht den Stuhl heran und legt den Arm um mich.
»Jetzt bist du hier. Das ist schon mal der erste und ein guter Schritt. Ich denke, ich mache uns eine Flasche Wein auf. Rot oder weiß?«
»Rot.« Ich wische mir die Tränen mit dem feuchten Handtuch weg und lege es zur Seite. »Em … Kann man sich in einem Menschen viele Jahre täuschen?! Greg hat … mich geschlagen, weil ich mich an der Kinokasse kurz mit einem Mann unterhalten habe, der mich gefragt hat, ob der Film sehenswert sei. Ab da hat Greg kein Wort mehr mit mir geredet. Und als wir nach dem Film zu Hause waren, da … da hat er mich angebrüllt und …« Ich schüttele fassungslos den Kopf. »Der Mann, mit dem ich mir die letzten sechs Jahre ein Leben aufgebaut habe. Der zukünftige Vater meiner Kinder …!«
Emily steht auf, streicht mir über den Kopf und öffnet eine Flasche Rotwein.
»Zum Glück habt ihr keine Kids. Sorry, dass ich das so direkt sagen muss. Wie auch immer … Dass du jetzt hier bist, ist das Beste, was du tun konntest. Ich bin stolz auf dich. So, und jetzt gehen wir raus auf die Terrasse und trinken einen Schluck. Du bleibst erst mal bei mir, dass das klar ist. Am Montag holst du deine restlichen Klamotten, wenn der Idiot im Büro ist. Außerdem nimmst du dir jetzt erst mal Urlaub. Ich schlage drei bis vier Wochen vor. Und mach dir keine Sorgen, ich stelle für diese Zeit eine Aushilfe ein oder sage deine eingetragenen Termine ab. Dann suchen wir eine kleine, schnuckelige Wohnung für dich. Oder du bleibst einfach bei mir. Was hältst du davon? Wir machen eine Weiber-WG. Platz habe ich genug. Und falls dein toller Greg hier aufschlägt, gehst du nicht an die Tür! Das erledige ich! Verstanden?«
Dankbar schniefe ich eine letzte Träne weg. Es hat durchaus Vorteile, wenn die beste Freundin gleichzeitig deine Chefin ist.
»Ach, Em, danke, wenn ich dich nicht hätte. Aber mehr als zwei Wochen Urlaub brauche ich nicht, wirklich nicht.«
»Du bist zu gut für diese Welt, Süße. Dann eben nur zwei. Wie du willst.« Plötzlich strahlt sie mich an. »Idee! Besuch doch deine Eltern. Das bringt dich auch aus der unmittelbaren Greg-Gefahrenzone.«
»Um Gottes willen, nein!« Ich verziehe das Gesicht. »Da müsste ich mir nur endlose Vorträge anhören. Sie hätten es schon immer gesagt … Der Mann wäre von Anfang an nichts für mich gewesen … Ich solle mir einen netten Mann suchen, eine Familie gründen, ein Baby bekommen, schließlich wäre ich ja schon achtundzwanzig, die Uhr würde ticken. Das möchte ich mir im Moment noch nicht antun.«
Wir reden fast die ganze Nacht. Erst gegen Morgengrauen schleiche ich ins Gästezimmer, falle auf das weiche Bett und in einen kurzen, unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen sieht die Welt schon anders aus. Mein Auge auch.
Unter dem Lid ist die Haut angeschwollen und violett verfärbt.
Ohne jeden Übergang macht sich in mir ein Gefühl breit, das ich in Bezug auf Greg nicht kenne. Wut! Ich bin wütend auf ihn. Sehr wütend!
Ist das jetzt gut oder schlecht?
Emily tritt zu mir ins Bad. »Oh, du bist schon wach? Ich hatte erst um die Mittagszeit mit dir gerechnet. Zeig mal dein Auge. Ah, das sieht übel aus. Zum Glück ist nichts aufgeplatzt. Und es ist Frühling, du kannst Sonnenbrille tragen.«
Obwohl mir nicht danach ist, muss ich amüsiert lächeln. Manchmal wäre ich gerne wie Emily. Sie macht immer das Beste aus jeder Situation und hat die gute Laune quasi gepachtet. Wenn ich recht überlege, ist mir die letzten Jahre viel Positives abhandengekommen. Eigentlich seit ich mit Greg zusammen bin. Diese Erkenntnis kommt ohne jeden Übergang, und mir wird für einen kurzen Moment leicht übel.
»Du musst was essen«, sagt Em treffsicher. »Du bist ja ganz fahl. Komm nach der Dusche runter, ich richte uns ein Frühstück.«

Wohlig seufzend schiebe ich den Teller von mir. Erst beim Essen habe ich gemerkt, welchen Hunger ich hatte. Jetzt, nach einer Portion Rührei mit Bacon, zwei Scheiben Toast dazu und einem Glas frisch gepressten Orangensaft geht es mir deutlich besser.
»Aeryn, ich bin heilfroh, dass du diesen Arsch verlassen hast. Bitte bleib jetzt stark, ja?« Emily stellt unsere Teller aufeinander und sieht mich mit gerunzelter Stirn an, als befürchte sie, ich könne jeden Moment verkünden, wieder zu Greg zurückzugehen.
»Keine Sorge. Er ist definitiv einen Schritt zu weit gegangen«, beruhige ich sie, nehme den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse und stehe auf, um mit Emily den Tisch abzuräumen.
»Absolut, Süße! Der hat dich viel zu lange kleingehalten und dein Selbstbewusstsein auf die Größe einer Walnuss schrumpfen lassen. Der Typ ist ein Narzisst wie aus dem Bilderbuch. Charmant, einnehmendes Wesen, und am Anfang erzählen sie dir genau das, was du hören willst, und hören selbst nicht richtig zu, erzählen mit Begeisterung von sich selbst, und wenn du nicht funktionierst, wie sie es wollen, werden sie beleidigend und aggressiv.« Sie nimmt mich in den Arm. »Wie hast du es nur so lange mit diesem Blender ausgehalten, Schatz?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich glaube, ich habe bereits vor einem halben Jahr Lunte gerochen. Weißt du noch, als Bonny überfahren wurde? Er hat nicht eine Träne wegen unserer Katze vergossen, auch nicht mit mir getrauert. Er hat einfach alles, was an Bonny erinnert, sofort entsorgt, und als er mit einem Freund telefoniert hat, habe ich gehört, wie er sagte, dass es jetzt endlich keine Katzenhaare mehr im Haus gibt.«
»Ich weiß, Süße. Du suchst dir eine Wohnung und holst dir wieder eine kleine Katze.«
»Dann brauch ich einen Garten«, sage ich nachdenklich und stelle verblüfft fest, dass sich der Gedanke, wieder ein Haustier zu haben, verdammt gut anfühlt.
»Nun, wie gestern schon vorgeschlagen … Ich hätte einen Garten. Und ich mag Katzen.«
Es klingelt. Emily und ich sehen uns an.
»Meinst du, es ist Greg?«, hauche ich und mir werden schlagartig die Knie zittrig.
»Greg, ein Vertreter, ein Zeuge Jehovas … Egal wer, ich wimmle ihn ab. Du gehst am besten in den Garten! Bin gleich wieder da.«
Natürlich gehe ich nicht, sondern lausche gespannt, was da an der Tür passiert.
Es IST Greg! Und er verlangt, mich zu sehen.
Hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, an die Tür zu stürmen und ihn anzubrüllen oder mich in einer Zimmerecke ganz klein zu machen, bleibe ich stocksteif am Tisch sitzen und bemühe mich, keinen Laut von mir zu geben.
»Pass mal auf, Greg!«, höre ich Emily scharf sagen. »Deine Blumen kannst du dir sonst wohin stecken, auf die Nummer fällt Aeryn nicht mehr rein. Und solltest du hier noch einmal auftauchen, rufe ich die Cops. Aeryn hat ein prominentes Veilchen, das reicht für eine saftige Anzeige. Und die willst du sicher nicht riskieren, oder?«
Greg sagt ein paar unschöne Worte zu Em, dann klappt die Tür zu und kurz darauf röhrt der Auspuff von Gregs Maserati. Die Reifen quietschen, als er das Gaspedal durchtritt.
»So, das wäre erledigt.« Emily nickt zufrieden und holt ein Coolpack aus dem Kühlschrank. »Hier, halte dir das unters Auge.«
Ich bedanke mich, wir trinken noch einen Kaffee auf der Terrasse – und eine Stunde später fühle ich mich sogar gewappnet, mit meiner Mutter zu telefonieren. Allerdings werde ich meine Eltern bis zur vollständigen Abheilung des Veilchens nicht besuchen. Sie sollen nicht wissen, dass Greg mich geschlagen hat, diese Diskussion will ich mir nicht geben.
»Du hast ihn verlassen!?«, kreischt meine Mom in den Hörer. Gut, dass ich nicht den Lautsprecher eingeschaltet habe. »Na endlich! Kind, du weißt, dein Dad und ich haben schon immer gesagt, dass der Kerl ein überheblicher Lackaffe mit Aggressionspotenzial ist. Wir haben es dir zwar nie gesagt, aber wir hatten von Anfang an die Befürchtung, er könne dich irgendwann mal verprügeln. Zum Glück ist das nicht passiert! Aeryn, was sind wir froh, dass du den Absprung geschafft hast. Ist er fremdgegangen?«
»Äh … Ja«, sage ich spontan und schäme mich gleichzeitig für diese Lüge. Obwohl … Wer weiß schon, was er an den Abenden wirklich getan hat, an denen er angeblich Überstunden leisten musste. Seltsamerweise schmerzt dieser Gedanke nicht. Das irritiert mich. Genau genommen kann es mit der Liebe ja nicht weit her sein, wenn die Vorstellung, dein Partner würde eine andere vögeln, nicht wehtut. Nicht mal ein bisschen. Schon komisch, dass ich das erst jetzt erkenne.
Das Angebot von Mom, sie zu besuchen, lehne ich ab, verspreche ihr jedoch, Weihnachten und das Neujahrsfest bei ihnen zu verbringen, was sie sehr freut. Sie gibt mir noch ein paar Ratschläge, wie zum Beispiel, erst mal eine kleine Wohnung zu suchen und finanziell nicht über die Stränge zu schlagen, sowie das Führen eines Tagebuches, um die Situation von Anfang an aufzuarbeiten. Das hätte den Vorteil, dass man immer nachschlagen könne, wenn die Gedanken Karussell spielen.
»Ach, und, Kindchen, melde dich mal wieder bei Tante Grace, ja? Wir haben letzte Woche erst telefoniert und sie hat nach dir gefragt. Aber jetzt komm erst mal zur Ruhe. Oh, und kannst du dich noch an Ewan erinnern?«
»Meine erste Liebe, als ich vierzehn war? Was ist mit ihm?«
»Er hat geheiratet. DAS wäre ein Mann für dich gewesen. So ein netter Kerl. Liebevoll, aufmerksam. Ein Familienmensch und kein gefühlsamputierter Karrierist wie dieser Greg.«
Sie spuckt den Namen aus wie faules Fleisch und ich muss lachen. »Mom, das ist ewig her. Ich wohne seit elf Jahren in Tampa.«
»Schlimm genug, dass du so weit von deinen Eltern entfernt bist.«
Bevor sie anfangen kann, mir Vorwürfe zu machen, dass ich Irland verlassen habe, um in Amerika Fuß zu fassen – weil ich Greg kennengelernt hatte –, beende ich das Gespräch. Aber nicht, ohne ihr zu versichern, dass ich sie und Dad lieb habe und ihnen vielleicht noch vor Weihnachten einen längeren Besuch abstatte.
Als ich aufgelegt habe, kommt Emily wieder auf die Terrasse. Sie reicht mir einen weiteren frisch gepressten Orangensaft, lässt sich in einen der Gartenstühle fallen und legt die Füße auf den Tisch.
»Na, das Elterngespräch hinter dich gebracht?«

***

Die nächsten Tage verbringe ich damit, meine wenigen Sachen aus Gregs Haus zu holen, wenn er nicht da ist. Seine Anrufe, die in den ersten zwei Tagen fast stündlich eintrafen, ignorierte ich. Stattdessen habe ich ihm eine Nachricht geschrieben, dass ich mich von ihm trenne und er bitte nicht da sein solle, wenn ich meine wenigen Habseligkeiten hole. Natürlich hat er mich daraufhin zugetextet und mir unendlich lange und viele Nachrichten geschrieben, in denen er sich mit blumigen und vor Schmalz triefenden Worten entschuldigte. Reden und überzeugen kann er gut. Viel zu lange bin ich seinem falschen Charme erlegen, obwohl ich schon länger geahnt habe, dass seine Worte eben nur leere und hohle Phrasen sind.
Man sollte die Menschen nicht an ihren Worten messen, sondern an ihren Taten.
Und die letzte Tat schwillt langsam ab. Allerdings ist es unter dem Auge noch ziemlich blau.
Jetzt räume ich die letzte Kiste in Emilys Garage.
»Und du brauchst den Platz echt nicht?«, vergewissere ich mich.
»Nein, das Auto kann auch mal draußen stehen. Viel hast du ja nicht, hm? Klamotten, Ordner, Bücher, ein bisschen Deko. Das kleine Kirschholzschränkchen gefällt mir gut. Dein karierter Ohrensessel auch. Passt zu dir.«
»Danke. Ja, ich hab nicht viel. Greg hatte ja alles, und ich habe einiges verkauft, als ich zu ihm gezogen bin.«
Emily lacht auf. »Ja, ja, in die tolle Villa mit der Riesengarage, die Platz für seinen noblen Fuhrpark, aber nicht für deine Möbel hatte.«
Ich seufze lange auf. »Schätze, ich muss mir eben alles wieder neu besorgen. Wenn ich eine Wohnung gefunden habe, gehst du mit mir auf den großen Flohmarkt? Ich denke, mein Budget erlaubt keine Neuanschaffungen. Oder ich suche mir zunächst eine möblierte Wohnung.«
Natürlich, dass ich daran nicht eher gedacht hatte.
»Oder du bleibst einfach hier. Ach Aeryn.« Emily gibt mir einen Stups. »Ich fühle, dass du wieder zu deiner alten Form zurückfindest. Das wird echt langsam mal Zeit. Nein, sag jetzt nichts, du weißt selbst, dass du die letzten Jahre hauptsächlich damit verbracht hast, deinem Greg zu gefallen. Familie, Kinder, eine Villa mit Pool und ein wohlhabender Mann. Leider hat das Leben immer einen Ausgleich in der Tasche, und der ist eben, dass Greg einer ist, der nur sich selbst liebt. Sei heilfroh, dass das mit dem Kinderwunsch nicht geklappt hat und …«
»Wie auch?« Ich lache verbittert auf. »Wir hatten das letzte halbe Jahr keinen Sex.«
»Bitte?!« Sie betätigt die Fernbedienung und das Garagentor schließt sich und wir gehen ums Haus herum auf die Terrasse. Da steht noch die Thermoskanne mit Kaffee und Em schenkt uns ein. »Warum das denn? Und wieso hast du mir nichts davon erzählt? Echt, sechs Monate ohne Sex? Wie hältst du das aus? Ich meine … Warte mal. Hast – oder hattest – du überhaupt noch Lust auf ihn?«
Mit der Frage überrascht sie mich. »Warte mal, ich fühl kurz nach.«
Tatsächlich habe ich die letzte Zeit eigentlich nur daran geknabbert, dass er keine Lust hatte. Wenn ich aber genauer darüber nachdenke …
»Du musst es dir vorstellen. Visualisieren. Stell dir vor, er liegt auf dir, sein Schwanz dringt in dich ein und er stöhnt und sagt was Schweinisches.«
»Em! Also wirklich! Nein, das will ich mir nicht …«
»Klappe! Stell es dir vor. Komm schon. Schließ die Augen, dann gehts besser.«
»Okay …« Ich schließe die Augen, stelle mir vor, wie er nachts auf mich draufrutscht, wie er es gerne gemacht hat, und dann in mich eindringt und sein »Oh, du bist so geil, so eng« von sich gibt.
»Alles klar«, sagt Emily plötzlich. »Kannst die Augen wieder aufmachen. Du hast gerade das Gesicht verzogen, als hättest du verdorbene Milch getrunken.«
»Hab ich?«
»Hast du.«
»Hm … Ich schätze, das mit dem Visualisieren ist gar nicht verkehrt. Ich habe tatsächlich keine Lust mehr auf ihn. Die Vorstellung hat mich weder scharfgemacht noch ein Sehnen in mir ausgelöst. Allerdings kann das auch an der Entstehungsgeschichte meines Veilchens liegen.«
»Wenn du ihn noch lieben würdest, wärst du spätestens jetzt in Tränen ausgebrochen, meinst du nicht? Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede, alles schon mal durchgemacht. Also bis auf das Veilchen. Und warum wollte er nicht mehr mit dir schlafen? Wie war seine Ausrede? Überstunden, Stress, Burn-out?«
»Greg meinte, ich hätte bestimmt fünf Kilo zugenommen und ich meine Schenkel … Nun ja, er hätte keine Lust auf Schwabbelschenkel.«
»Ist das zu fassen!?« Emily lässt sich verblüfft in den Stuhl plumpsen. »So ein … Also wirklich! Hör mal zu, Aeryn. Du bist NICHT dick! Definitiv nicht! Im Gegenteil. Wir sind ungefähr gleich groß, also ein bisschen was über 170 Zentimeter. Und was wiegst du? Lass mich raten. Weniger als ich vermutlich. Zweiundsiebzig Kilogramm?«
»Achtundsechzig«, antworte ich kleinlaut.
»Na bitte!«, empört sie sich lautstark. »Hör mal zu, Süße. Der wollte dich einfach kleinhalten. Sexentzug ist ein gutes Mittel dafür. Guck dich doch mal an. Du hast eine tolle Figur! Deine Brüste sind nicht zu klein und nicht zu groß. Im Gegensatz zu meinen Brüsten. Ich habe schon Furchen auf den Schultern von den BH-Trägern. Du hast unglaublich schöne, grüne Augen, und ich würde morden, um deine natürlichen roten, langen Locken zu bekommen. Du bist schön. Du bist attraktiv. Dass du dir dessen bewusst bist, konnte Greg nicht zulassen. Dann wäre er ja nicht mehr Nummer eins. Und du bist nicht nur eine verdammt sexy Frau, leider auch eine, die sich hat blenden lassen von einem Typen, der immer bewundert werden will.«
»Ich denke, das kommt von seiner Erziehung. Seine Mutter hebt ihn noch heute auf ein Podest und lobt jeden Pups, den er lässt. Vielleicht leidet er darunter?«
»Ach Gottchen, der Arme … Mir kommen gleich die Tränen … Sag mal, tickst du noch richtig? Komm mal von dem Trip runter, diesen Kerl ständig entschuldigen zu müssen. Du hast ihn verlassen. Gott sei Dank!«
Ich grinse. »Stimmt.«
Zugegeben, ich fühle mich tatsächlich frei. Ein Gefühl, das ich schon viele Jahre nicht mehr wahrgenommen habe.
Plötzlich gibt mein Handy einen Ton von sich und ich sehe auf das Display.


Kapitel 2

RONAN

Der Frühling ist eine der schönsten Jahreszeiten in Irland.
An diesem Morgen ist es frisch, die Luft riecht nach Regen und durch die Wolken schieben sich die ersten Sonnenstrahlen. Mit der Tasse Kaffee in der Hand setze ich mich auf die Bank an der Tischgruppe vor dem Haus und lasse meine Blicke gemächlich über die stille Weite gleiten. So trinke ich meinen Kaffee am liebsten, in absoluter Ruhe, mit dem Blick über die raue Landschaft bis hin zu den Klippen.
Die idyllische Stille ist fast perfekt. Wenn nicht mein Wolfshund neben mir lautstark sein Futter aus dem Napf schmatzen würde.
»Haldir …«, sage ich amüsiert. »Könntest du ein bisschen leiser fressen?«
Nach dem letzten Schluck Kaffee spüle ich Tasse und Napf und gehe hinüber in die Werkstatt. Haldir macht es sich auf einer Decke unter dem Terrassendach gemütlich. Wir haben schon einen langen Spaziergang hinter uns und danach pflegt er, ein Nickerchen zu machen.
Für mich beginnt mein Arbeitstag. Ich gehe hinüber in die Scheune, die ich als Werkstatt umfunktioniert habe, und schalte das Radio ein.
Auf dem Auftragskanu fehlt nur noch das kleine Schild mit meinem Firmennamen.
Ein Lied mitsummend nehme ich das schmale Messingschild aus der Folie und klebe es fest. In wenigen Stunden wird der Kleber trocken sein und der Kunde kann sein neues Kanu in Empfang nehmen. Es gibt wenige, die noch auf handgearbeitete Kanus Wert legen, denn sie sind wesentlich teurer als Massenware aus Kunststoff, dafür jedoch langlebiger. Zudem sind alle meine Anfertigungen auf individuelle Wünsche ausgerichtet und jedes davon ist ein Einzelstück. Das Holz hierzu nehme ich aus meinem eigenen Mischwald, der ein paar Kilometer im Landesinneren liegt und den bereits mein Ur-Großvater angelegt hatte. Meine Kunden schätzen nicht nur das hochwertige Holz, auch dass ich ihnen während des Herstellungsprozesses wöchentlich Bilder vom aktuellen Fertigungsstand zusende. Somit sind sie eingebunden und können mir jederzeit Ergänzungen oder Änderungswünsche mitteilen. Auch das hat seinen Preis. Von einem Auftrag kann ich ein halbes Jahr gut leben. Und wir haben erst Ende April.
Heute geht bereits das zweite Kanu in diesem Jahr an den Kunden, drei weitere sind bestellt. Ich kann nicht klagen, wirklich nicht.
Zum Abschluss hauche ich das Schild kurz an und poliere es vorsichtig, dann gehe ich ins Haus und setze eine weitere Kanne Kaffee auf.
Gleich kommt Owen, um seine Wagenladung Brennholz abzuholen. Ein kleines Nebengeschäft, das ich jedoch nicht mehr wirklich benötige. Trotzdem behalte ich es bei. Im Dorf hat man sich daran gewöhnt. Und es gibt den einen oder anderen, von dem ich nichts für das bisschen Holz verlange, weil … Nun ja, manche haben eben zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Sie geben mir für das Brennholz ein paar Eier von den eigenen Hühnern oder einen Korb Äpfel. Das ist völlig in Ordnung.
Aus dem Fenster sehe ich, wie Owen aus seinem Pick-up steigt und Haldir begrüßt, der ihm freundlich entgegen wedelt.
»Guten Morgen, Ronan.« Owen kommt herein und nimmt die Schirmmütze von seinen blonden Haaren. »Frisch heute, hm? Schon gearbeitet? Oh, Kaffee. Für mich bitte auch einen.«
Wir trinken unseren Kaffee im Stehen und ich deute auf seinen Kopf. »Wenn du deine Matte noch ein bisschen wachsen lässt, kannst du dir einen Zopf machen«, scherze ich, weil ich weiß, wie ungern Owen zum Friseur geht.
Er verdreht die Augen und zieht seine Mütze wieder auf. »Was soll ich tun? Wenn ich Lorna sage, wie ich es geschnitten haben will, nickt sie nur, lächelt – und dann geh ich mit raspelkurzen Haaren wieder raus.«
»Raspelkurz steht dir gut und sieht ordentlicher aus. Du solltest dir einen Ruck geben.«
»Mal sehen. Hast du das Holz fertig?«
»Klar, liegt in der Scheune, ich helfe dir, es aufzuladen. Wollen wir?«
Während wir die Holzscheite auf die Ladefläche von Owens Pick-up werfen, setzt Owen mich über den neuesten Klatsch und Tratsch im Dorf in Kenntnis. Kurz darauf weiß ich, dass die Kirche eine neue Sitzbank in der ersten Reihe hat, weil die alte am Sonntag zusammengekracht ist. Aber es hat sich niemand wehgetan. Und dass die Nichte von Grace kommt, um ihrer Tante im Café zu helfen.
»Sie bleibt vier Wochen, hab ich gehört. Und sie soll hübsch sein. Nicht verheiratet.« Owens Augen bekommen so einen typischen Ausdruck, den ich gut kenne.
»Bist du auf Brautfang? Dann solltest du dir erst recht die Haare schneiden und den Bart stutzen lassen, Folk.«
»Mal sehen …« Owen kratzt sich am Nacken, blickt hoch und deutet auf das Strohdach meines Hauses, ein traditionelles Thatched roof. Ich liebe diese Art von Dächern. »Wie wäre es, wenn wir mal die undichte Stelle reparieren? Du kannst ja nicht dauerhaft einen Eimer im Bad stehen haben, um den Regen aufzufangen. Und wenn du noch länger wartest, fault dir die Dachlattung weg.«
»Gerne, wenn ich nicht mit hochmuss und dir von unten unbrauchbare Tipps zurufen kann?«
»Klar. Aber wenn ich deine Hilfe brauche, kommst du hoch. Keine Widerrede, Ronan.« Er kneift die Augen zusammen und sieht erneut hoch. »Ist kein großer Schaden, muss aber gemacht werden. Die Tage bringe ich das Stroh und die Versiegelung mit. Finn hat noch übrig von seiner letzten Reparatur, bei dem ich ihm zur Hand gegangen bin. Kostet dich vielleicht ne halbe Wagenladung Holz.«
Owen ist zwar kein Dachdecker, sondern der Inhaber der einzigen Kfz-Werkstatt im Ort, doch in Derrybridge hilft man sich immer gegenseitig. Allerdings wäre es mir lieb, wenn er seine Hilfeleistungen nicht auf mich und meine Abneigung gegen große Höhen ausweiten würde. Aber er gibt einfach nicht auf, mich mit entsprechenden Situationen konfrontieren zu wollen. Besser, ich gehe einfach nicht auf seine Bemerkung ein, mit aufs Dach zu steigen, sonst trete ich nur eine Diskussion los, die ich mir nicht geben will. Noch nicht. Vielleicht irgendwann. Die Zeit wird es zeigen.
Owen klopft mir grinsend auf die Schulter. »Danke, Freund. Ich mache mich jetzt auf den Weg. Wie wäre es, wenn du die Tage in den Pub kommst. Man vermisst dich. Das letzte Mal ist schon Monate her. Ey, du musst irgendwann wieder am normalen Leben teilnehmen.«
»Du wolltest Holz, kein Gespräch«, antworte ich missmutig. »Wenn ich Lust auf ein Bier habe, komme ich.«
»Das sagst du jedes Mal …« Owen sieht mich stirnrunzelnd und mit einer Spur Sorge im Gesicht an.
»Meinetwegen schau ich nächste Woche mal vorbei«, lenke ich ein. »Und du gehst zum Friseur. Bring Lorna was Süßes mit, vielleicht besänftigt sie das und lässt dir mehr von deiner Matte auf dem Kopf. Kleiner Tipp: Sie mag Irish Scones mit Rosinen.«
Er tippt sich an die Mütze. »Danke für den Tipp, werde ich beherzigen. Man sieht sich.« Bevor er geht, verabschiedet er sich ausgiebig von Haldir, der sich zu uns gesellt hat und seine Streicheleinheiten fordert. Mein Riesenhund stellt sich auf seine Hinterbeine und legt die Vorderpfoten auf Owens Schultern. Der versucht lachend, sich vor Haldirs Zunge zu retten. Gelingt ihm nicht.
Als er vom Hof fährt, rollt sich Haldir wieder auf seiner Decke ein und ich gehe rüber in die Werkstatt. In einer Stunde wird das fertige Kanu abgeholt und ich kann mit dem nächsten beginnen. Sorgfältig wähle ich die Bretter aus, lege sie zur Seite und kennzeichne sie.
Haldirs Bellen reißt mich aus meiner Konzentration. Missmutig sehe ich nach, wer gekommen ist, aber da ist niemand. Nur Haldir, der neben dem Rohr der Regenrinne auf zwei Beinen steht, sich mit den Vorderpfoten an der Hauswand abstützt und nach oben bellt.
»Was ist denn los? Bist du irre?«, schimpfe ich, da höre ich ein jämmerliches Maunzen. Von oben.
Katze?
Tatsächlich. Eine junge Katze sitzt oben auf der Regenrinne und versucht, nach unten zu gelangen. Wie zur Hölle ist sie da hochgekommen? Egal, offenbar fehlt ihr noch die Übung. Na prima. Haldir hat Katzen zum Fressen gern. Und ich könnte auf eine Rettungsaktion getrost verzichten.
Aber es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.
Missmutig hole ich die Leiter aus der Scheune und lehne sie an die Hauswand. Dann sperre ich Haldir ins Haus, was einem mittleren Kraftakt gleicht. Natürlich bellt er im Haus weiter, weil er seine Zwischenmahlzeit von dannen ziehen sieht.
»Tut mir leid, Haldir, Katze steht nicht auf deinem Speiseplan.« Schnell schließe ich die Tür.
Dann stehe ich etwas beklommen vor der Leiter und sehe nach oben.
»Mau?« Die kleine, hübsch getigerte Katze sieht mich ängstlich und zugleich hoffnungsvoll an und setzt ein Pfötchen auf die obere Sprosse.
»Braves Kätzchen! Na los, komm, komm, komm«, flöte ich sanft. Doch sie ist zu ängstlich, hangelt panisch herum – und kann sich schließlich wieder fangen. Allerdings ohne es auf die Leiter zu schaffen.
Ich seufze, reiße all meinen Mut zusammen und steige die ersten vier Sprossen hoch.
Fuck! Darf das wahr sein? Mein Puls steigt in ungesunde Höhen und mir steht plötzlich kalter Schweiß auf der Stirn.
Nicht nach unten sehen! Nur nach oben.
»Bin gleich bei dir, Mieze«, sage ich, mehr um mich selbst zu beruhigen.
Noch weitere drei Sprossen, ganz langsam. Nicht runtergucken! Schwindel und Schweißausbruch ignorieren. Alles wird gut.
Endlich bin ich oben, halte mich verkrampft mit einer Hand an der Leiter fest, mit der anderen schnappe ich mir die Katze. Geschafft!
Wieder mit beiden Füßen auf sicherem Boden setze ich die Katze ab. Die verschwindet sofort. Kein Wunder, Haldir ist vom Bellen schon ganz heiser und jagt dem Kätzchen sicher eine Heidenangst ein.
Ich muss mich erst mal setzen.
Es dauert nur zwei, drei Minuten, dann bin ich wieder der Alte.
Lächerlich! Ich sollte mich dieser blödsinnigen Höhenangst wirklich stellen! Es wird Zeit, verdammt! Ich hätte das Problem schon viel früher angehen sollen.
Denn dann hätte ich das Unglück abwenden können! Wenn ich nur dabei gewesen wäre …
Wütend und von innerlichem Schmerz durchflutet, weil die Erinnerung mich überwältigt, stehe ich auf und schlage mit der Faust gegen einen Holzbalken. Dann warte ich, bis sich mein Atem beruhigt, und öffne die Tür.
»Katze ist weg, Haldir.«
Das allerdings glaubt er mir nicht, stürmt laut bellend an mir vorbei, nimmt die Fährte des Kätzchens auf und rast im Zickzack über den Hof. Schließlich gibt er hechelnd auf und legt sich völlig fertig wieder hin.
Ich bringe ihm eine Kaustange. »Sag ich doch, die Katze ist weg. Hier, als Ersatz.«
Er verschmäht die Stange und dreht den Kopf weg. Haldir ist beleidigt. Kann ich zwar verstehen, aber leider nicht ändern. Ich lasse die Stange vor ihm liegen. Schätzungsweise wird er höchstens ein paar Minuten durchhalten, dann ist sie Geschichte.
Als ich mich aufrichte, fährt ein Geländewagen mit Bootsanhänger auf den Hof.
Keine Minute zu früh.


Kapitel 3

AERYN

Tante Grace ruft mich an? Woher hat sie meine Nummer? Ah, sie hat bestimmt mit Mom gesprochen. Ich verdrehe die Augen.
»Greg?«, will Emily wissen.
»Nein, meine Tante.«
Ich gehe dran, Emily hebt den Daumen und lässt mich allein.
»Hi, Grace«, begrüße ich meine Tante. »Wie schön, dass du dich meldest. Wir haben ja schon lange nichts mehr voneinander gehört.«
»An mir liegt es nicht, Schätzchen. Aber ich komme gleich zur Sache, du kennst mich. Ich benötige deine Hilfe.« Verwirrt bin ich einen Moment sprachlos. »Aeryn? Bist du noch dran?«
»Äh, ja. Du hast mit Mom gesprochen?«
»Nur kurz, um deine Nummer zu bekommen.«
»Nur wegen der Nummer?« Das ist ungewöhnlich, wenn Mom und Tante Grace telefonieren, dann manchmal stundenlang. Und dabei wird garantiert keine einzige Information ausgelassen.
»Ja, warum? Sie hatte keine Zeit, weil sie gerade im Auto saß. Ich hatte keine Zeit, weil … weil ich keine Zeit hatte. Gibt es Gesprächsbedarf? Sollte ich noch mal mit ihr telefonieren?«
»Nein, nein, ich dachte nur … Egal. Du brauchst meine Hilfe?«
»Ganz genau. Für drei oder vier Wochen, wobei mir vier Wochen lieber wären. Meine Angestellte musste kurzfristig verreisen, ihre Eltern sind erkrankt. Tja, und jetzt hänge ich in den Seilen, habe niemanden für das kleine Café und für meine Gäste. Du weißt doch, ich vermiete zwei Zimmer an Touristen. Es kommen zwar fast nie welche, aber ausgerechnet jetzt reist bald eine Familie an. Darüber hinaus muss ich auch noch ein Dorffest mitorganisieren. So. Und da bist du mir eingefallen. Ich hoffe, du hast deinen Urlaub noch nicht verplant? Kannst du herkommen? Natürlich sollst du das nicht kostenfrei tun, ich kann dir ein bisschen was bezahlen, allerdings nicht viel. Du wohnst in einem der Gästezimmer mit eigenem Bad bei mir im Haus, wenn du das willst. Was meinst du? Hast du Zeit? Lust? Nebenbei bemerkt würde ich meine Nichte ganz gerne mal in Augenschein nehmen. Aus dir ist bestimmt eine sehr hübsche Frau geworden. Ist dir bewusst, dass ich dich das letzte Mal gesehen habe, als du deinen sechzehnten Geburtstag gefeiert hast? Hast du immer noch Sommersprossen auf der Nase? «
Puh! Das ist Tante Grace, wie sie leibt und lebt.
Emily kommt mit einer Karaffe Zitronenlimonade, setzt sich und sieht mich neugierig an. Ich mache kleine kreisende Bewegungen mit dem Zeigefinger in Höhe meiner Schläfe und blase die Wangen auf.
»Sommersprossen …«, antworte ich schließlich. »Nur noch ein paar wenige und nur, wenn ich viel in der Sonne bin. Und jetzt noch mal langsam. Du willst, dass ich für drei oder vier Wochen zu dir in dieses Kaff nach Irland komme? Hm, eigentlich ist das Dorfleben nicht mein Ding, aber wenn du meine Hilfe brauchst, dann …«
»Dringend sogar!«
Emily hebt den Daumen, grinst breit und nickt wild.
»Uff. Und wann? Ah, sofort? Echt?« Ich schalte auf Lautsprecher.
»Wie gesagt, es ist dringend. Den Flug bezahle ich dir natürlich. Ich buche auch für dich und lasse das Ticket am Schalter hinterlegen.«
»Flug …« Ich bin so baff, dass sich die Dinge in meinem Kopf überschlagen und ich kein Wort sagen kann.
»Einen Mietwagen brauchst du nicht. Kannst meinen Wagen haben. Na?«
»Ja, also, ich weiß nicht, das kommt ein bisschen plötzlich.«
»Frag mich mal. Meine Angestellte ist von heute auf morgen abgereist und jetzt stehe ich da. So schnell kann ich hier leider keine Hilfe auftreiben.«
Das glaube ich gerne. Es gibt ja kaum Menschen dort. Vor neun oder zehn Jahren hat mein Onkel Grace verlassen – wegen einer Jüngeren. Daran kann ich mich noch erinnern. Kurz darauf hat meine Tante beschlossen, noch mal neu anzufangen, und ist von Dublin in irgendein kleines Dorf am Ring of Kerry gezogen. Der Name des Dorfes fällt mir allerdings nicht mehr ein, ich weiß nur noch, dass es fernab jeder Zivilisation liegt und ich damals dachte, dass jemand arg verzweifelt oder völlig schmerzbefreit sein muss, wenn er freiwillig von einer pulsierenden Stadt in die absolute Einsamkeit zieht.
Emmy kritzelt was auf die Serviette und hält sie hoch.
»Sag zu!«, steht darauf.
Ich zeige ihr einen Vogel, sie malt ein weiteres Ausrufezeichen dazu.
»Aeryn«, meldet sich Tante Grace. »Ich verstehe, wenn du auf die Schnelle keine Entscheidung treffen kannst. Zudem ist es sicher schwierig, kurzfristig Urlaub zu bekommen. Meinst du, du könntest mir am Montag Bescheid geben?«
»Montag? Kein Problem. Sag mal, wie heißt das Dorf, in dem du lebst? Sorry, ich habs vergessen.«
»Derrybridge. Du wirst es lieben.«
Wir verabschieden uns und ich lege verblüfft mein Handy auf den Tisch.
»Also wenn du mich fragst …« Emily beugt sich vor, legt die Unterarme auf den Tisch und sieht mich eindringlich an. »Dieses Angebot ist das beste, was dir jetzt passieren kann. Vier Wochen Urlaub sind genehmigt. Ab sofort!«

***

Drei Tage später sehe ich aus dem Fenster runter auf viele Wolken, dazwischen weites, grünes Land.
In wenigen Minuten wird mein Flieger auf dem Shannon Airport in Irland landen. Shannon ist zwar ein kleinerer Flughafen, bietet jedoch eine erstaunlich große Anzahl an Direktflügen in und von den USA an.
Mir wäre es lieber gewesen, ich hätte nach Dublin fliegen können, um meinen Eltern einen Besuch abzustatten. Allerdings wäre die Fahrt von Dublin nach Derrybridge von circa sechs Stunden fast doppelt so lang gewesen. Und als ich gestern mit Mom telefoniert und ihr meine neue Telefonnummer gegeben habe, war sie bereits über die Tatsache glücklich, dass ich ein ganzes Stück näher zu ihr gerückt bin. Nichtsdestotrotz werde ich meinen Eltern auf jeden Fall einen Besuch abstatten, wenn ich schon mal in Irland bin.
Seit zwei Tagen habe ich nicht nur ein neues Handy, auch einen komplett neuen Vertrag mit neuer SIM-Karte. Greg hat mich einfach nicht in Ruhe gelassen. Ständig hat er mir Nachrichten und Fotos gesendet. In ellenlangen Sprachnachrichten hat er mir seine Liebe gestanden und beteuert, dass ihm lediglich die Hand ausgerutscht wäre. Das würde ihm nie wieder passieren. Ich glaube ihm nicht. Nicht mehr. Sein Schmeicheln und Säuseln ist mir nur zu bekannt, und ich bin heilfroh, dass ich mittlerweile klarsehe.
Mom hat mir hoch und heilig versichert, meine Nummer nicht an Greg weiterzugeben. Auf Emily kann ich mich sowieso verlassen.
Das Flugzeug neigt sich leicht zur Seite, als es eine Kurve fliegt, und unter mir liegt Irland. So viele Jahre bin ich nicht mehr hier gewesen …
Der Anblick bringt Kindheitserinnerungen zurück, und ich bin überrascht, dass plötzlich meine Augen brennen und eine Träne über meine Wange kullert. Keine Ahnung, warum ich jetzt heulen muss, aber irgendwie kabbeln sich bei mir gerade zwei unterschiedliche Empfindungen, die sich anfühlen wie Abschied und Ankunft zugleich. Sehr seltsam.
Ich reiße mich zusammen und beschließe, mich jetzt einfach auf meine Tante und auf Derrybridge zu freuen. So ein bisschen ist das wie ein langer Urlaub in der Natur. Okay, in einer Natur, die nur deswegen so unglaublich grün ist, weil sie von 365 Tagen im Jahr bis 270 Tage Regen abbekommt. Was ich an Tampa liebe, sind die Temperaturen und die Tatsache, dass es dort mehr Sonne statt Regen gibt.
Nachdem ich meinen Koffer vom Baggage Claim geholt habe, strebe ich auf den Ausgang zu.
Natürlich, es regnet. Wie sollte es auch anders sein …
Dicke, dunkle Wolken hängen am Himmel und es fröstelt mich leicht. Hier ist zweifelsohne kein Sonnenbrillenwetter, ganz und gar nicht. Zum Glück kann ich mittlerweile auf verdunkelte Gläser verzichten, denn das Veilchen lässt sich ganz gut überschminken.
Ich hole den Mini-Regenschirm aus der Handtasche, spanne ihn auf und halte Ausschau nach einem 1960er Ford Zodiac, dem alten Auto von Grace. Ein Auto ohne Kanten, zweifarbig, unten weinrot, oben cremefarben. Ich könne ihn gar nicht übersehen, hatte sie gesagt. Ich erinnere mich dunkel an den Wagen.
Doch weit und breit ist kein Oldtimer zu sehen, nur jede Menge Taxis, Privatwagen, ein ziemlich versiffter Pritschenwagen und zwei kleinere Busse.
Oh, vielleicht verspätet sie sich und hat versucht, mir Bescheid zu sagen. Hastig ziehe ich das Handy heraus und deaktiviere den Flugmodus.
Na bitte, eine Sprachnachricht von Grace:
»Liebes, mein alter Herr springt nicht an. Aber ich habe einen netten Mann vom Dorf überreden können, dich abzuholen. Ich hoffe, er schafft es rechtzeitig. Er wird dich mit einem Schild empfangen, auf dem dein Name steht.«
Na super, bin ich vielleicht an meinem Namensschild vorbeigelaufen? Ich klappe den Schirm zusammen und gehe wieder hinein.
Ah, da steht ein Mann mit dem Rücken zu mir und hält ein Schild hoch. Erleichtert strebe ich auf ihn zu und denke mir noch, Grace hätte ja wenigstens den Namen erwähnen können.
»Entschuldigen Sie bitte.« Ich tippe ihm auf die Schulter. »Warten Sie vielleicht auf mich?«
Er dreht sich um. Auf dem Schild steht: Familie Addison.
Ich entschuldige mich erneut und weiß nicht, was ich tun soll. Hier in der Halle ist jedenfalls niemand mehr mit einem Schild.
Na, das fängt ja gut an.
Wieder vor der Tür – oh, es regnet nicht mehr – lasse ich meine Blicke schweifen. Und bleibe an dem olivgrünen Pritschenwagen hängen, der aussieht, als hätte er an einer Schlammgrubenrallye teilgenommen.
Daran gelehnt ein Mann in Jeans, kariertem Hemd, die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und einem Schild, das er gelangweilt nach unten hängen lässt.
Und darauf steht mein Name.
Habe ich erwähnt, dass ich eines meiner schickeren Kostüme trage? Knielanger Rock und leichter Sommerblazer aus lindgrünem, weich fließendem Stoff. Bügelfrei. Das erste Geschenk von Greg. Er hat mir viele Kleider gekauft. Keines hat mir gefallen, weil sie einfach nicht zu meinem Typ passen, bis auf dieses Kostüm. Das mag daran liegen, dass ich es mir selbst ausgesucht hatte. Zu dem schicken Kostüm passen eigentlich hohe Schuhe sehr gut, doch wegen der langen Wege innerhalb des Flughafens habe ich darauf verzichtet und mich für ein Paar weiße, flache Schuhe mit nur zwei Zentimeter Absatz entschieden.
Ich komme mir vor, als würde ich im Ballkleid auf einen Traktor steigen. Egal! Die zweieinhalb Stunden bis Derrybridge kriege ich irgendwie rum.
Angestrengt suche ich nach ein bisschen Euphorie in mir, endlich hier zu sein, werde aber nicht fündig. Gut, ich kann später weitersuchen.
Je näher ich allerdings dem Pritschenwagen und dem Mann komme, der nicht viel älter als ich sein müsste und der nicht daran denkt, auch nur einmal hochzublicken, desto tiefer sackt meine Laune, anstatt besser zu werden.
Dabei sieht er gar nicht schlecht aus. Und er ist größer, als es von der Entfernung gewirkt hat. Eine typisch irische Schirmmütze sitzt auf seinen leicht welligen, dunklen Haaren und er sieht kräftig aus. Also nicht dick, sondern kräftig im Sinne von stark und trainiert. Holzfäller? Könnte hinkommen.
Mom würde sagen: Das ist ein Naturbursche, den haut nichts um. Nicht Wind, nicht Wetter.
Das ändert jedoch nichts daran, dass ich gleich in diesen dreckigen Wagen steigen muss, dessen Sitze wahrscheinlich genauso schmutzig sind wie die Karosserie – und mein Kostüm wahrscheinlich Geschichte ist.
»Guten Tag«, begrüße ich den offensichtlich gelangweilten Kerl und versuche, Freundlichkeit in meine Stimme zu legen.
Er hebt den Kopf – und eine Augenbraue.
Im Geiste füge ich dem gelangweilt noch ein überheblich hinzu.
»Ah«, brummt er und taxiert mich mit einem leicht spöttischen Gesichtsausdruck. »Aeryn, hm?«
»Ja, die bin ich. Hallo. Danke, dass Sie mich abholen.«
»Kein Ding.«
Von einer freundlichen Begrüßung hält er wohl nichts. Stattdessen stößt er sich vom Auto ab, wirft das Schild auf die Pritsche und deutet wortlos auf meinen Koffer.
Was ist denn das für einer? Kann der sich nicht richtig artikulieren?
»Das ist ein Koffer«, spotte ich, quasi als Retourkutsche für seinen Blick von eben. »Da sind Utensilien drin, die man benötigt.«
»Was Sie nicht sagen. Wenn Sie ihn freundlicherweise loslassen würden, kann ich ihn auf die Ladefläche legen. Sie können ihn sich auch gerne auf dem Beifahrersitz zwischen die Beine klemmen.«
»Was vielleicht gar keine so schlechte Idee wäre. Wenn es auf der Ladefläche genauso aussieht wie auf dem Rest ihres Pritschenwagens, werde ich das wahrscheinlich auch tun!«
»Wird ein bisschen eng. Aber gut, wie Sie meinen. Mein Name ist übrigens Magee. Sie können Ronan sagen. Und das ist kein Pritschenwagen, sondern ein Landrover Defender Pick-up.« Er öffnet die Tür.
»Aha, dann also Pick-up. Hallo, Ronan. Ich heiße Aeryn Moore.«
»Weiß ich.«
Pft! So ein unfreundlicher Klotz! Ein gut aussehender zwar, aber das rettet ihn auch nicht mehr.
»Ich denke, der Koffer kann auf die Ladefläche. Haben Sie da wenigstens eine Abdeckung?«
Er nickt brummend, packt meinen Koffer und wuchtet ihn über die Umrandung, als wäre er federleicht. Dann zieht er eine Plane drüber.
Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, steigt er ein und kurbelt das Fenster runter. »Können wir?«
Perplex umrunde ich den Wagen, weil ich irgendwie erwartet hatte, dass er mir die Tür öffnet. Nun, vielleicht bin ich da ein bisschen verwöhnt von den amerikanischen Männern. Wie auch immer, hierzulande werden Frauen offenbar nicht hofiert. Schade eigentlich. Immerhin öffnet er mir von innen die Tür und hält mir die Hand hin, da der Einstieg ziemlich hoch ist.
»Danke, das schaff ich alleine!«
Ich habe schließlich auch meinen Stolz. Okay, einer, der die letzten Jahre von Greg immer mehr vergraben wurde. Darüber hatte ich den Flug über genug Zeit zum Nachdenken.
Im Wageninneren ist es erstaunlich aufgeräumt und sauber.
»Oh, keine Schlammspritzer?«, kann ich mir nicht verkneifen.
Er sieht mich nur flüchtig von der Seite an und brummt: »Nein, hätten Sie gern welche?«
Ich verdrehe seufzend die Augen. Danke, Tante Grace. Danke, dass du mir einen ausgesprochen zuvorkommenden Klotz mit einwandfreien Umgangsformen geschickt hast.
Aber wahrscheinlich ist er der Einzige im Dorf gewesen, der zufällig Zeit hatte. Das darf ich ihr nicht übel nehmen. Sie kann ja nichts dafür, dass ihr museumsreifer Wagen nicht angesprungen ist.
Hoffentlich verläuft die Fahrt nicht allzu zäh und geht schnell vorbei. Was ich allerdings bezweifle. Die Plaudertasche neben mir kriegt die Lippen nicht auseinander und starrt hoch konzentriert auf die schmale Straße vor uns, die sich durch endlose grüne Hügel schlängelt. Und natürlich regnet es.
Das pulsierende Leben am Flughafen, die vielen Menschen, das hektische Treiben hat sich noch nicht wirklich wie Irland angefühlt. Seit wir auf der Landstraße sind, hat sich das schlagartig geändert. Auch, weil ich eine Weile brauche, um mich wieder an den Linksverkehr zu gewöhnen, und so manches Mal zusammenzucke, wenn er abbiegt, weil mein Hirn automatisch im Rechtsverkehr denkt.
»Schön hier«, versuche ich, mich abzulenken und ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Ja.«
»So grün.«
Es ist wirklich verdammt grün. Und verdammt einsam.
Zwischendurch hört es immer mal wieder auf zu regnen, dann schieben sich sogar Sonnenstrahlen durch die Wolkenfetzen. In diesem Moment gleicht die Landschaft einem dieser kitschigen Filme aus Hollywood, was mich jedoch überhaupt nicht stört. Ich kann mich überraschenderweise gar nicht sattsehen an den samtigen grünen Hügeln, dem Glitzern vom Wasser eines Sees, den kleinen Cottages, die wild verstreut zwischen den Erhebungen stehen, und den niedrigen Natursteinmauern, die sich in die Landschaft schmiegen. Ansonsten sehe ich Schafe, ein paar Ziegen und eben überholen wir einen Eselskarren.
Mir ist langweilig. Aber ich traue mich auch nicht, ein Gespräch zu starten, weil ich vermutlich sowieso nur eine knappe Antwort bekomme.
Ach, was soll’s.
»Wissen Sie«, beginne ich und versuche, mich etwas bequemer hinzusetzen. »Ich hätte ja vor einer Woche noch nicht gedacht, dass ich jetzt hier sein würde. Bei meiner Tante. Gott, ich habe sie schon ewig nicht mehr gesehen. Keine Ahnung, wie alt ich gewesen bin. Fünfzehn vielleicht? Und da hat Grace noch in Dublin gewohnt. Ich übrigens auch, aber nicht bei meiner Tante, sondern bei den Eltern. Die leben nach wie vor in Dublin. Ich bin dann irgendwann nach Tampa gezogen. Wegen eines Mannes. Aber na ja, das ist ein anderes Thema. Und dass Tante Grace mal ein B&B aufmacht und ein Café dazu, hätte ich auch nie gedacht. Aber sie wollte eben noch mal ganz neu anfangen, nachdem sie dann alleine war. Wir haben uns wirklich gefragt, warum ausgerechnet in dieser Einöde.«
»Weil es hier schön ist?«
»Hm, ja. Schön schon. Für eine gewisse Zeit. Ob ich auf Dauer hierbleiben könnte, weiß ich nicht.«
»Man gewöhnt sich an vieles«, brummt er und ein Schatten huscht über sein Gesicht.
»Hab ich was Falsches gesagt?«
»Nein, nur zu viel.«
»Ah … verstehe.«
Während der folgenden Minuten versinken wir in Schweigen. Na toll. Wie soll ich das noch fast zwei Stunden aushalten?
Verstohlen betrachte ich diesen Magee von der Seite. Er scheint viel an der frischen Luft zu sein, denn seine Haut ist leicht gebräunt – und dazu gehört was in Irland, denn Sonne scheint in dieser Gegend echt Mangelware zu sein. Naturbursche halt. Einer mit Bartschatten, kantigen Wangenknochen und einer geraden, nicht zu großen Nase. Ich hatte mal einen Kunden, der eine Weile regelmäßig kam, um sich die Augenbrauen zupfen zu lassen, die immer wieder in der Mitte zusammenwuchsen. Der Mann hatte eine riesige Nase, die sein Gesicht in den Hintergrund gerückt hat. Emily und ich nannten ihn nur »Die Nase«. Die meines Fahrers dagegen war …
Herrje! Ist es nicht egal, was er für eine Nase hat, zur Hölle?
Mein Blick wandert zu seinen kräftigen, überraschend gepflegten Händen. Kein Ehering. Das karierte Hemd hat er bis zu den Ellbogen umgeschlagen. Schöne, sehnige Unterarme.
Plötzlich macht der Wagen einen Hüpfer und ich halte mich instinktiv an dem Griff über dem Fenster fest.
»Nur ein Schlagloch«, sagt Ronan Magee.
»Hab ich gemerkt.«
»Wollen Sie einen Kaffee?« Er taxiert mich kurz von der Seite, hebt wieder in dieser spöttischen Art eine Braue und deutet hinter mich. Sein intensiver Blick irritiert mich, vielleicht weil mir seine graublauen Augen gefallen. »Auf dem Rücksitz liegt ein Rucksack mit einer Thermoskanne und zwei Bechern. Schenken Sie mir einfach einen mit ein.«
»Also wollen Sie einen Kaffee«, stelle ich fest. Schöne Augen hin oder her, der Mann ist ein ungehobelter Holzklotz. Na, dann hat er ja den richtigen Beruf gewählt. Vermute ich mal. Auf jeden Fall stelle ich mir einen Holzfäller genau so vor. »Und wie, bitte schön, soll ich an den Rucksack kommen?«
Kaum habe ich die Frage formuliert, schüttelt er fast unmerklich den Kopf, fährt schwungvoll an den Straßenrand und steigt sichtlich genervt aus.


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Liebesroman