Randgedanken
Der Rand ist wichtig. Vieles steht, geht, liegt und sitzt am Rand. Das muss nichts Schlechtes sein.
Die Position des Läufers beim Schachspiel zum Beispiel ist negativ behaftet, steht dieser am Rand. Heißt es doch in einem Sprichwort: Der Läufer am Rand bringt Kummer und Schand. Tatsächlich hat es der arme Rand nicht leicht. Im Vergleich zur „Mitte“ schneidet er schlecht ab, der arme.
Am Rande der Gesellschaft, am Rande des Abgrunds. Selbst der Pizzarand wirst meist verschmäht und bleibt auf dem Teller liegen. Friedrich Schiller, der in einem Gedicht den Rand des Lebens mit Zähneklappern und Heulen charakterisiert, lässt ja auch kein gutes Haar an ihm, dem Rand, dem Bösen.
Der Rand hat keinen guten Ruf.
Aphorismen jedoch, den Bemerkungen am Rand, sagt man nach, sie hätten es zu etwas gebracht. Ja was nun? Gut oder schlecht? Das ewige Drama in fünf Akten. Am Ende siegt weiß. Die Liebe, das wahrhaftige Herz, das seine Emotionen stets über den Rand hinausmalt. Die Liebe bleibt nicht am Rand. Warum auch? Und was ist mit dem engagierten Büroangestellten, der in der Lage ist, über den Rand hinauszusehen? Gemeinsam mit dem Herzen steht er nicht am Rand, sondern lugt frech und allen Traditionen zum Trotze darüber hinweg. Bekommt er deswegen mehr Gehalt? Am Rand ist es nicht einfach.
Es bleibt schwierig.
Mit den Füßen im Backofen und dem Kopf im Eisfach fühlt man sich durchschnittlich wohl. Doch wer begibt sich freiwillig in so eine Lage, außer vielleicht, er stünde am Rand? Am Rand von was? Man kann ja auch randvoll den Rand voll haben, rein mental gesehen. Deswegen der Backofen. Nervlich am Rand, bereit, dem Leidwesen eine Ende zu bereiten, wie auch immer. Gelegentlich stehen einem auch Magensäfte bis zum Rand, wie etwa dem der Unterlippe, kurz davor überzuschwappen, sauer hinuntergeschluckt. Schlucken wir nicht sowieso schon viel zu viel?
Der Rand an sich ist offensichtlich gefährlich. Man tut gut daran, eben nicht am Rand zu stehen, ob mit Läufer oder ohne, nervlich oder mit der Kraft der drei Herzen. Und schon gar nicht gesellschaftlich. Das ist ganz schlecht.
Am Rand eines Blattes steht ungeachtet dessen stets Signifikantes, etwas, das irgendjemand dahingeschrieben hat, weil es, nun ja, wichtig ist. Die paläografischen Merkmale der sieben Weisen beispielsweise. In sattem Rot schrieben sie Anmerkungen an den Rand. Also sind Dinge, oder auch Auslöser, Triggerereignisse, Motive, die am Rand stehen, von Bedeutung.
Irgendwie klar. Dem Am-Rand-Stehen sollte tunlichst Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Auch im Badezimmer. Ja, im Badezimmer. Genauer, in den Silikonfugen zwischen Badewannen- oder Duschrand. Dort – am Rand – breitet sich unter ungünstigen Bedingungen gerne Schimmel aus.
Und schon wieder. Am Rand liegt die Pest. Nichts scheint gut am Rand.
Auch nicht im Backofen, in dem der Kopf liegt, und man sich durchschnittlich wohlfühlt, solange die Füße im Eisfach stecken und – man eben nicht am Rand anliegt. Dort kann es mitunter zu heiß – oder eben zu kühl werden. In jedem Fall ungemütlich.
Ob es der Mutter auch ungemütlich war? Letzen Sommer am Rand des Schwimmbeckens? So eingehüllt in ölig schmierige Sonnenlotion, die Wimpern geschwärzt, die Haare hochgebunden und mit Spray fixiert. So kann man ja nicht ins Wasser. Warum dem Wasser den Gefallen tun, das zu schaffen, was ein mittlerer Tornado nicht imstande wäre zu vollbringen? Also warum ins Wasser, wenn es sich am Rand doch so attraktiv steht? Zwar war der sechsjährige Nachwuchs beinahe am Absaufen und schaffte es gerade noch, sich am Rand festzuhalten, mit letzter Kraft, nach Luft schnappend. Speichel lief ihm über die Unterlippe und Rotz aus der Nase. Aber er lächelte, hob den Daumen, stolz wie ein kleiner Junge nur sein kann, als die Frau mit der pampelmusengroßen Hochsteckfrisur in Freudengeheul, ob der Schwimmkünste ihres Sohnes, ausbrach. Wie schade. Sie fühlte sich offenbar wohl, so alleine am Rand. Und hätte doch gescheiter mit ihm prusten sollen, lachen sollen, ihn im Wasser anfeuern sollen. Sollen, sollen, sollen.
Alles ist besser, als am Rand stehen und zusehen.
Doch tatsächlich sind es die Mütter, die oft und jahrelang am Rand stehen. Ihrem eigenen, dem der letzten Kraft. Oft ist er in sicherer Nähe, der Abgrund. Es braucht nicht viel. Nur ein Funken, ein bisschen Fieber, ein verschluckter Baustein, ein für Minuten gekränktes Kinderherz, alle Qual der Welt in der Nichterreichung eines Schokoriegels … Nächte werden zu Tagen, der Schlaf eine Ohnmacht am Rand der Sorge. Erbricht sich das Kind in der Nacht, fiebert es hoch, plagen Alpträume das kleine Wesen, dass uns Eltern mehr bedeutet, als das eigene Leben?
Am Rand, am Rand. Alles läuft am Rand.
Auf dem Spielplatz sitzen Kinder im Sand, die Mütter – im Regelfall – am Rand, auf ihre Nachkommenschaft vertieft oder in ihre Smartphones, ihre Bücher, in wetteifernde Gespräche. Auch pressen Mütter, bisweilen auch Väter, ihre Gesäße gelegentlich am Rand miniaturhafter Tische auf nicht für die Größe von Erwachsenenhintern ausgelegte Stühle. Eine Bemerkung am Rand: diesen zarten, leicht zerbrechlichen, für Kinderhintern gerade noch so passablen Sitzgelegenheiten gebührt das Wort Stuhl nicht. Stühlchen bitte. Vermerk: Für Erwachsene ungeeignet. Und trotzdem wird darauf gesessen. Jahrein, jahraus. Am Nabel der Elternwelt, am Rand des kniehohen Tisches. Aber mal ehrlich: Dafür am Rand zu stehen, bzw. zu sitzen, gehört ja auch irgendwie dazu, wir tun es für unsere Kinder. Dabei beissen wir uns gerne eine Plombe an steinharten Dinkelplätzchen aus – ohne Zucker. Eine Zeitlang. Dem folgt das Zurücktreten oder ein Schritt nach vorne, je nach Blickwinkel. In jedem Fall wird ein Platz am Rand (des Kindergartentisches) frei. Für die nächste Generation.
Also ist ein Leben am Rand doch nicht so schlimm, oder? Die Menschheit tut es immer wieder und immer wieder mit Begeisterung, ohne vorher das Kleingedruckte zu lesen. Wir schenken Leben und leben dadurch uns selbst eine Weile, viel zu kurz – im Nachhinein -, am Rand. Ohne zu schwanken, in Liebe, mit überlaufenden Herzen, aber auch in Unsicherheit und Furcht. Dem Bemühen, das Liebste auf die Füße zu stellen und es vor dem Rand der Gesellschaft zu bewahren, ist der Rand egal, an dem man steht. Tagein, tagaus. Ein Lächeln genügt. Alles ist gut.
Kinder dagegen sollten nicht am Rand stehen.
In keinem Fall. Das ist traurig und rührt mein Herz. Zu viele Kinder sind´s, die ihre Eltern am Rand des Bierglases sehen. Müssen. Am Rand des Existenzminimums, am Rand des Erträglichen, Hosen von der Wohlfahrt tragend, am Rand verschlissen. Sie sind stark unsere Kinder, die Herzen erfüllt von Liebe, unverwüstlich, beharrlich, unschuldig.
Schwierig. Das Leben ist teuer. Viel teurer als noch vor fünfzig Jahren. Gesellschaftlich bedingte Belastung, ein Gehalt reicht meist nicht, Fremdsprachenkurse bitteschön, sobald der frischgeschlüpfte Wurm alleine das WC benutzen kann, am besten jedoch noch vor dem ersten Brei. Was? Ihr Kind krabbelt noch nicht? Spätentwickler, wie? Naja, meiner ist ja schon am Gymnasium angemeldet. Und Ihrer?
Am Rand der Ohnmacht. Manchmal. Nicht immer. Druck, Erwartungen, äußere Ansprüche. Und Innere. Die sind die Schlimmsten. Logopädie, Ergotherapie, Kinderturnen, Klavierunterricht, Fußball. Vielleicht reicht es ja für die Regionalmannschaft. Ungelebter Traum von Papa. Atlaskorrektur. ADHS? Marathongleich von Termin zu Termin hetzend traben unsere Zöglinge im evolutionstechnischen anaeroben Bereich, getrieben von Eltern am Rand.
Am Rand des Drucks, der Erschöpfung, der Erwartungshaltungen. Muss, muss, muss. Nur nicht am Rand stehen. Mittelfeld bitte. Gerne auch Pole-Position, hastig die kürzere Innenbahn anstreben. Pole-Sitter, Babysitter, Eltern. Am Rand. Warum die Eile, der Anspruch, das Streben nach …, ja nach was? Nur nicht am Rand stehen. Mit der Masse laufen, egal wohin.
Wir stehen oft an irgendwelchen Rändern. An unseren ganz individuellen. Ist das jetzt schlecht? Am Rand des Möglichen zu stehen, spornt an, verhindert Stillstand, lotet die Grenzen aus. Wichtig für die Weiterentwicklung. Aber bitte nicht übertreiben. Ab und zu am Rand stehen bleiben und zusehen, wie die anderen dahinstürmen. Dahin? Wohin? Na, zum nächsten Ziel. Warum? Keine Ahnung. Manche brauchen Ziele, sonst eiern sie planlos rum, für andere ist der Weg das Ziel.
Wie auch immer. Warum nicht einfach Innehalten? An irgendeinem Rand. Den Blick schweifen lassen. Bis zum Rand des Horizonts. Durchatmen. Der Rand begrenzt. Am Rand gehts nicht weiter, nur seitwärts, oder zurück. Warum also rennen? Stillhalten kann entspannend sein. Bäume tun das regelmäßig und dauerhaft. Also, am Rand stehen. Selbst mitten im Wald stehen sie irgendwo am Rand von etwas: einem moosbewachsenen Stein, einem Abhang, einem Weg … Es stört ihn nicht, den Baum. Seine Kinder sind in alle Himmelsrichtungen zerstreut und haben an anderen Orten Fuß gefasst, vielleicht irgendwo am Rand eines Sees, einer Stadt, eines Feldes. Auch ich weile hin und wieder am Rande eines Feldes und sehe meinem Hund zu.
Er buddelt ein Loch und ist total versunken, nimmt Nichts um sich herum wahr, nicht einmal die Mäuse am Rand, die ihm kurz einen erschreckten Blick zuwerfen und davoneilen. Mein Blick schweift zum Horizont. Ich kneife die Augen zusammen, schließe sie und lass die Sonne rein. Es ist still, es ist schön. Es gibt gerade Nichts zu tun. Neben mir, am Rand meines Rucksackes, lässt sich ein Schmetterling nieder. Ich kann den Frühling riechen, die ersten Gänseblümchen sehen. Der Atem fließt ruhig. Total entspannt. Keiner drängelt, keiner hetzt, keiner will etwas von mir.
Es tut gut, so am Rand zu sitzen und nichts zu tun.