Leseprobe

Zitronenblau: Unverblümt verliebt

»Ich vermisse eine Kuschelschulter, die wohlige Wärme wohlgestalteter Männerwaden. Und ich vermisse es so sehr, hin und wieder in den Arm genommen zu werden.«

Anni

Alle Romane von Jo Berger können unabhängig voneinander gelesen werden.
Keine Cliffhanger und garantierte Happy Ends.

 


Nippelstarrer

Zitronenblau Anni1

Wo bin ich, warum zur Hölle ist es mitten in der Nacht hell und was ist das für ein Krach?
Ich öffne die Lider – uh, hell! – und schirme mit einer Hand die Augen ab. Durch das Fenster fallen die Sonnenstrahlen in einem schrägen Winkel ins Zimmer und ich rekapituliere pfeilschnell: Aha, ich liege auf der Couch, es ist vermutlich nachmittags und draußen toben die Nachbarskinder mit dem Hund.
»Komm, Rico, spring! Juchhuh! Noch mal, noch mal! Uuuuund hopp!«
Na, die haben Spaß. Aber … Igitt! Was klebt mir da im Gesicht? Und auf dem Sofakissen? Was ist das?
Ich pflücke mir das klebrige Dings von der Wange, setze mich schlaftrunken auf und habe keinen Schimmer, wie das Stückchen Eispapier dorthin gelangt ist. Egal. Da ist noch ein Schokosplitter dran, ich lecke ihn ab. Schmeckt noch. Der letzte Bissen vom Eis allerdings muss wohl vom Stiel aufs Sofakissen gefallen sein. Nein, das lecke ich jetzt nicht ab.
Premiere: Eis nicht fertiggegessen. Kreuz im Kalender machen!
Ich lege das Papier zur Seite und gähne. Der Tag hat mich mehr geschlaucht als vermutet. Der Körper holt sich eben, was er braucht. In meinem Fall fast ein Jumbo-Vanilleeis mit Schokosplittern und eine Mütze voll Schlaf. Trotz dauerbellendem Riesenpudel.
Als Nächstes ziehe ich mir das verrutschte Haarband vom Kopf, vergesse die Haarklammer, mit der ich das Band an Ort und Stelle halten kann – also manchmal klappt das – und reiße mir dabei eine blonde Strähne raus. Die Drecksklammer ist mit der Locke hinterrücks eine symbiotische Verbindung eingegangen. Nur um mich zu ärgern. Als ob mich meine verflixte Mähne nicht schon genug nerven würde.
»Aua! Mist.«
Das ist mal wieder typisch. Da will ich nur mal kurz nach einem harten Arbeitstag und einer langen Fahrt auf der Autobahn entspannen, penne auf einem Eis ein und skalpiere mich fast.
Seit die Firma vor einem halben Jahr von Heidelberg nach Frankfurt gezogen ist, war es das mit dem kurzen Arbeitsweg. Seitdem bin ich jeden Tag mit Möhre über eine Stunde einfache Strecke auf der Autobahn. Heute sind es sogar anderthalb gewesen.
Möhre ist mein alter, aber treuer, orangefarbener Corsa und verleiht mir einen Hauch von Understatement. Möhrchens Sitze sind so alt, dass sie fast durchgescheuert sind, und an einer Stelle quillt die Füllung raus. Bei mir quillt ein bisschen Bauchspeck über die Jeans. Wir haben also was gemeinsam. Ich würde mein Auto für nichts auf der Welt eintauschen. Okay, Möhrchens Klimaanlage funktioniert nur, wenn sie gute Laune hat. Ansonsten heizt sie, völlig egal, wo der Schalter steht. Aber ich liebe mein kleines Auto, spreche mit ihm und es antwortet gelegentlich mit einem surrenden »Hui«. Auch bei hundert Sachen. Heute hätte ich allerdings auf die zusätzliche Wärme im Wageninneren verzichten können, denn für Anfang Oktober ist es ungewöhnlich warm. Na ja, dafür war der August verregnet und viel zu kühl. Jetzt haben wir eben einen echten Altweibersommer, wie man hier sagt.
Ein neuer Wagen müsste her, aber ich tue mich mit dem Gedanken schwer. Möhre und mich, das trennt man nicht so einfach. Ich könnte mit dem Zug fahren, um sie zu schonen, aber ich hasse es, in überfüllten Abteilen zu sitzen. Wenn da die Klimaanlage ausfällt, wirds richtig lustig. Und das passiert wohl häufiger, wie mir Kollegen erzählen.
Ich denke, ich werde das Thema Homeoffice noch mal ansprechen. Ich bin Webdesignerin, ein Job, den ich größtenteils auch von zu Hause erledigen könnte. Aber die doofe Haferfleck will davon nichts wissen. Meine Chefin Hortense Haberbeck ist der albtraumgewordene Wachhund der Abteilung und hat gern seine Schäfchen um sich versammelt.
Blöde Kuh!
Ich glaube, sie ist ein Cyborg. Ein biologischer Organismus aus Mensch und maschinellen Bauteilen. So hölzern, wie sie sich manchmal bewegt, und so streng, wie sie guckt, müsste sie mal dringend geölt werden. Oder gevögelt, würde Tobias sagen – und dabei keine Miene verziehen. Früher habe ich seinen trockenen Humor gemocht. Mittlerweile ist er nur noch trocken. Ohne Humor.
Ich seufze. Wann kommt mein Mann von seiner Geschäftsreise zurück und welcher Tag ist heute?
Nach einem Blick auf meine Smartwatch weiß ich dann auch: Es ist Freitag.
Oder auch Freutag, wie Tobi immer sagt. Einer seiner Running Gags. Nach tausend Wiederholungen nicht mehr wirklich witzig. Heute kommt er zurück. Das heißt: Sex. Yeah!
Oh, ich muss noch Steaks besorgen. Muss ich? Ach nein, die habe ich gestern schon geholt. Und ein Stückchen Wurst angeboten bekommen. Ja, ich bin klein, aber herrje – ich bin dreißig, nicht drei!
To do: Duschen, Ganzkörperpeeling Marke: Butterweich und pfirsichzart und alles abrasieren bis auf die Kopfhaare. Ich hasse es, wenn Tobi mit dem Kopf zwischen meinen Beinen steckt und meckert, weil es ihn wieder pikst. Das törnt echt ab.
Das tun die juckenden Pickelchen nach der Rasur im Bikinidreieck aber auch.
Wie auch immer, ich muss erst mal richtig wach werden und mich sortieren, denn nach dem unüblichen Nachmittagsschläfchen mit verrenkten Gliedern auf dem Sofa behauptet meine innere Uhr, es wäre verdammt früh morgens. Und was macht man morgens?
Richtig. Kaffee trinken.
Draußen jauchzen Lara und Laura, während der Hund dazu bellt. Ich ignoriere den dumpfen Kummer in mir, den dieses Bellen verursacht, und zerknülle das Papierfitzelchen zusammen mit der Haarsträhne in meiner Hand.
Ein Wunder, dass ich bei dem Krach überhaupt eingeschlafen bin. Und das, noch bevor ich mein Eis fertig gegessen habe. Das ist mir auch noch nicht passiert. Zum Glück ist Tobias noch nicht zu Hause. Andererseits wäre ich nicht mit Eis eingeschlafen, wenn er hier gewesen wäre. Wahrscheinlich hätten wir einen Spaziergang die Straße runter unternommen bis zum romantischen Hinterhofbiergarten vom Alt Hendesse, das Wochenende eingeläutet und eine Kleinigkeit gegessen.
Und Tobi hätte mir in seiner sonoren Art von der Geschäftsreise nach Zürich erzählt. Dabei interessieren mich seine ausschweifenden Ausführungen über neue Standorte für die Produktion von Etikettendruckmaschinen ungefähr genauso brennend, wie tote Eintagsfliegen am zweiten Tag aus dem Obstkorb zu schütteln.
Unter lautem Jauchzen der Nachbarsmädchen und Ricos freudigem Bellen schlurfe ich in die Küche, schalte die Kaffeemaschine ein, starre stumpfsinnig auf das rote Blinklicht und warte, bis es von Rot auf Grün umspringt. Dann drücke ich auf den Knopf. Der Kaffee tröpfelt in die Tasse und mir schraubt sich der träge Gedanke in den Kopf, dass ich heute noch irgendwas erledigen muss. Etwas Wichtiges.
Ganz sachlich nachdenken, Anni, sage ich zu mir und nippe am Lebenselixier, als mir die Titelmelodie von Fluch der Karibik lautstark durch Mark und Bein fährt.
Kaffee schwappt über den Tassenrand und ich kann gerade noch verhindern, dass meine Jeans was abbekommt. Danke auch!
»Hi, Mama. Was gibt’s?«, nehme ich den Anruf entgegen und wische den Kaffeefleck vom Boden.
»Du denkst an meinen Philodendron?«
»Täglich mehrmals mit wachsender Begeisterung.« Ich setze mich auf den Küchenstuhl und nehme einen Schluck aus der Tasse.
»Annalisa.« Ihre Stimme steigt in unerträgliche Höhen. »Du hast doch nicht etwa vergessen, den Philo zu besorgen!?«
Bei meinem vollen Namen nennt sie mich nur unter Extrembedingungen. Allerdings sind deren Grenzen abhängig vom Gattennervfaktor, vom Hormonhaushalt oder dem Antibiotikumgehalt der Vortagesmahlzeit oder alles zusammen. Manchmal reicht bei meiner Mutter lediglich eine ungeplante Änderung des Tagesablaufes. Und der sieht für morgen vor, dass ich zum Abendessen aufschlage und ihr einen supergünstigen Philodendron – nur heute und solange der Vorrat reicht – aus dem Discounter mitbringe.
»Mama, beruhig dich. Die Pflanze steht schon hier und freut sich auf dich. Tobi will allerdings nicht mitkommen. Er ist erst heute Abend zurück von der Geschäftsreise.«
»Und dann kann er nichts essen?«
»Mama … Er will nach der langen Fahrt lieber einen ruhigen Tag haben, bevor er am Montag …«
»Bei uns ist es ruhig. Sehr ruhig. Es fahren so gut wie nie Autos vorbei.«
»Ich weiß, aber ich komme trotzdem allein.«
»Wenn es sein muss. Aber vergiss den Philo nicht! Ich kenne dich, wenn du unter Stress stehst, vergisst du gern mal was.«
»Ich habe Kaffee, keinen Stress.«
»Zu viel Kaffee ist ungesund, Liebes.« Ihre Stimme bekommt diesen unverkennbaren Klang der besorgt mahnenden Mutter. »Er lässt deinen Blutdruck ansteigen, die Bitterstoffe greifen die Magenschleimhaut an und es kann zu Unruhe und Schlafstörungen kommen.«
»Keine Sorge, habe eben stundenlang auf dem Sofa geschlafen.«
»Auf dem Sofa? Das ist aber gar nicht gut für die Halswirbelsäule. Kind, du solltest …«
»Mama, wir sehen uns morgen, ja?«
Nach dem Gespräch stehe ich ein klein wenig orientierungslos in der Küche herum. Was wollte ich vorhin eigentlich tun? Also, außer Kaffee trinken.
Ah ja, etwas Wichtiges erledigen.
Auf dem Fensterbrett liegt der Abholzettel für ein Paket. Den habe ich gestern aus dem Briefkasten gefischt, als ich nach Hause gekommen bin. Normalerweise nehmen Sabina, meine Nachbarin, und ich unsere Päckchen gegenseitig entgegen, wenn einer von uns nicht da ist. Aber vielleicht hat sie die Klingel nicht gehört, weil sie im Garten war. Kommt vor. Sie nimmt oft genug Pakete für mich entgegen. Vor ein paar Tagen habe ich mir aus einem dänischen Shop ein hellblaues Milchkännchen aus Porzellan bestellt. Mit ein paar bunten Blümchen darin wird es den alten Terrassentisch optisch aufwerten. Ein beprimeltes Kännchen. Hübsch.
Tobias hasst Dekozeug. Aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an. Wenn er mich nicht hätte, würde er in einer völlig schmucklosen, aber superpraktischen Schwarz-Weiß-Chrom-Glas-Wohnung leben. Im Laufe der letzten acht Jahre hat er sich jedoch ganz gut mit meiner Liebhaberei arrangiert und ignoriert Fransenbordüren an Kissen genauso erfolgreich wie Blümchen-Jumbo-Tassen.
Ich kann gar nicht genug bekommen von witzig-romantischen Gadgets für die Küche, wie Geschirrhandtücher mit Spitzenborten, unterschiedliche Tassen, je pastelliger, verspielter und beblümelter, desto schöner! Gestrickte Topflappen aus Dänemark, verzierte Notizbücher, Postkarten und Spitzenvorhänge. Und kleine Schildchen in Kräutertöpfen, Döschen für allerlei Krimskrams, Kissen und Decken, flauschig und verspielt.
Eines der fünf Zimmer meines Hauses dient nicht nur als Kammer für Bügelbrett und Staubsauger, es ist voll mit Bastelmaterial für meine kleinen Herzschmeicheleien. Im Laufe der Jahre hat sich einiges angesammelt. Nicht alles gestalte ich selbst, ich liebe auch Magnetschilder mit lustigen Sprüchen wie »Lass mich, ich muss mich da jetzt reinsteigern« (von meiner Schwester Malia) oder »Soll ich dir helfen oder bekommst du das allein kaputt?« (von Nascha, meiner Freundin) oder »Ich bin nicht klein. Ich bin platzsparend«. Selbst gekauft.
Draußen machen die Mädchen mit dem Gartenschlauch Jagd auf den Hund. Ich gucke weg, setze mich, lege die Füße hoch und schlürfe den drölften Kaffee des Tages. Dabei ignoriere ich erfolgreich das zerknüllte Eispapier neben der Mülltonne. Ich treffe nie. Wirf mir einen Ball zu und er landet an meiner Stirn. Garantiert. Meine Stärken liegen in anderen Dingen. Dekorieren, schöne Grafiken basteln, Eis essen. Und irgendwie haben die Eisverpackung und ich etwas gemeinsam. Wir sind beide verknittert. Nach dem Kaffee werde ich die widerspenstigen und seit neuestem schulterlangen Haare entwirren und mir eventuelle Eisklebereste abwaschen und … Oh nein! Um wie viel Uhr macht der Paketshop zu?
Mist! In einer halben Stunde!
Ich rase unter der Dusche durch, binde mir ein buntes Haarband um den Kopf und schlüpfe in meine Lieblingsjeans im Vintagestyle. Möhre bleibt für heute stehen, ich werde das Rad nehmen. Dann muss ich mir keinen Parkplatz suchen.
Gerade verzweifle ich an dem Versuch, die verdammten Häkchen vom BH zu schließen, da klingelt es an der Tür.
»Momentchen!«, brülle ich, werfe den BH in die Ecke und ziehe hastig ein Shirt über. Zeitgleich geht eine Nachricht auf meinem Handy ein. Auf dem Weg zur Tür werfe ich einen Blick darauf. Aha, Tobias kommt später. So gegen neun. Vielleicht auch zehn, kann er jetzt noch nicht sagen.
»Hey, Anni.« Sabina streckt mir strahlend ein Paket entgegen. »Ist gestern schon für dich gekommen, hab’s aber vergessen, weil Laura ihre Jacke drübergeworfen hat.«
Sabina trägt einen grünen, völlig fleckfreien Jumpsuit und Glitzersandalen dazu. Wie schafft sie es nur, als Mutter von zwei Kindergartenmädchen plus Hund plus Halbtagsjob so verboten gestylt auszusehen? Aber ihre Haare … Okay, da stimmt was nicht, aber …
Noch ein Paket?
»Danke, Bina. Ah, das Solarlicht. Stimmt. Hab ich auch vergessen. Die Lieferung hat Wochen gedauert.« Ich nehme das Paket entgegen und versuche, die weiße Masse in ihrem Haar einzusortieren. »Ähm … du hast da was im Haar. Ist Mike schon zu Hause? Das sieht aus wie … Okay, es könnte auch Körperlotion sein.«
Sabina lacht und streicht über ihre dunkle lange und glatte Haarpracht – ich würde töten für solche Haare. »Ach nein, das ist nur Zuckerguss. Wir haben vorhin einen Kuchen verziert.«
Sie leckt das Zuckergusssperma vom Finger. Das erinnert mich an etwas, dass ich heute Nacht vielleicht auch noch tun würde. Also, ohne Zuckerguss, und vorausgesetzt, Tobi ist nicht zu müde. Leider ist er die letzten Monate oft müde.
»Und danach hast du dich umgezogen«, spreche ich meinen Gedanken laut aus.
»Nein, wieso? Magst du nachher rüberkommen, ein Glas Wein trinken und was essen? Wir grillen.«
»Vielleicht. Tobias kommt heute etwas später aus Zürich zurück. Und ich muss ein Paket holen. Also jetzt.«
Sie lacht und zeigt auf meine Brüste.
»So? Weißes, dünnes Shirt ohne BH. Schlechte Idee. Man sieht deine Nippel.«
Och nö, ne?
Ich verdrehe die Augen, blicke an mir hinunter, gebe ihr zähneknirschend recht und stelle das Paket neben die Garderobe. Die besteht aus einem Birkenstamm mit unterschiedlichen und kunstvollen Haken. Selbst gemacht. Darauf bin ich besonders stolz.
»Bina, ich muss los. Ich sage dir nachher Bescheid, ob wir noch rüberkommen, ja?«

Der Fahrtwind kühlt angenehm und ich genieße die kurze Fahrt bergab zum Dorfkern.
Ich rolle an dem hübschen, knallrot gestrichenen Häuschen der Weinwirtschaft Alt Hendesse vorbei – treten muss ich nicht, es geht durchgängig bergab – und freue mich schon jetzt darauf, mit Tobi dort morgen Abend zu sitzen. Auch, wenn er wieder Wurstsalat mit Bratkartoffeln oder Zwiebelrostbraten bestellen wird. Mein Tobi ist eben ein Gewohnheitsmensch. Ach, ich liebe den schnuckeligen Hinterhofbiergarten mit seinen alten und efeubewachsenen Mauern.
»Huhu, Frau Rosen!«, höre ich plötzlich eine weibliche Stimme.
»Hallo, Frau Bergmann«, rufe ich der Besitzerin der Bäckerei Mahlzahn zu und bremse etwas ab. Sie wischt gerade die Kreidetafel sauber und schreibt was Neues drauf.
»Morgen gibt es wieder Johannisstreusel. Soll ich Ihnen einen zurücklegen?«
»Nicht nötig, danke.« Dann rolle ich weiter um die Kurve.
In einem supersüßen Fachwerkhäuschen an der Ecke hat vor einem halben Jahr eine Tonwerkstatt eröffnet. Fand ich süß, kann man was draus machen. Oder auch nicht.
Das Schaufenster und auch das Innere des Ladens sind so lieblos gestaltet, dass ich mich frage, wie kreative Menschen so wenig Sinn für Dekoration und Arrangement haben können. Ich gebe ihnen maximal noch ein halbes Jahr. Irgendwie passt der Laden nicht in unseren kuscheligen Vorort mit seinen schiefen Fachwerkhäuschen, den Kopfsteinpflastern und süßen Geschäften, wie die kleine Bücherstube direkt neben der Tiefburg.
Die Ruine ist total romantisch und war lange Zeit der Stammsitz der Herren von Handschuhsheim. Im Jahr 1770 wurde dort das Skelett eines Ritters in einem Hohlraum hinter einer Wand gefunden. Der steckte sogar noch in seiner Rüstung. Eine der vielen Sagen, die um den eingemauerten Ritter ranken, besagt, dass er ein Verhältnis mit einem Burgfräulein der Burg Hirschhorn gehabt haben soll, was natürlich zu dieser Zeit ein Unding gewesen ist. Zur Strafe hat man ihn kurzerhand lebendig eingemauert.
Auf dem Vorplatz des alten Gemäuers der ehemaligen Wasserburg sprudelt das Leben. Menschen sitzen auf Bänken an der alten Grabenmauer, hinter der früher Wasser gewesen ist, oder an den Tischen des Cafés unter knallroten Sonnenschirmen oder schlendern einfach nur gemütlich um die Burg herum und besuchen die kleinen, hübschen Geschäfte, die sich ringsherum befinden. Und ich hätte jetzt große Lust, mich auf die Mauer vor der Burg zu setzen und ein Spaghettieis zu essen.
Aber ich muss ein Paket abholen. Und die Zeit wird knapp.
Kurz bevor sich der Schlüssel in der Tür des Paketshops dreht, begehre ich nassgeschwitzt Einlass und wedele mit dem Abholschein.
Ich kann nicht sagen, ob mein verzweifeltes Lächeln oder meine durchschimmernden Nippel der Grund sind, warum der Inhaber mich noch reinlässt, aber das ist mir jetzt auch egal. Ich habe mein Kännchen, er sein Nippelbild. So hat jeder was davon.
Allerdings ist das Paket größer als vermutet. Nun gut, ich hatte mal eine stylische Fliegenklatsche bestellt, die in einem Karton kam, der wahrscheinlich für Schneeschuhe gedacht war. Warum also nicht auch eine kleine Milchkanne in einem Paket für einen Reisetrolley?
Und wie transportiere ich das Teil auf dem Rad? In den Lenkerkorb passt es schon mal nicht. Es bleibt der Gepäckträger als einzige Alternative. Nur müsste ich das Paket irgendwie fixieren. Kurzerhand ziehe ich meinen Gürtel aus und schaffe es, mein Juwel einigermaßen festzuzurren. Dann schwinge ich mich aufs Rad.
Der Weg zurück wird länger dauern und anstrengender sein, weil’s bergauf geht. Aber Bewegung ist wichtig, tut gut, und ich bekomme seit Monaten viel zu wenig davon. Seit ich täglich mehrere Stunden auf der Autobahn verbringe. Und seit Bandit nicht mehr bei uns ist.
Immer noch ein saublödes Gefühl.
Ich vermisse die langen Spaziergänge mit meinem großen, verrückten Husky, seine treuen Augen, wobei eines hellblau und eines dunkel gewesen ist. Er hat immer ausgesehen, als würde er lachen.
Ich drücke eine Träne weg und überlege, ob ich etwa dreihundert Meter Umweg über den nächsten Zebrastreifen nehmen soll, um auf die andere Straßenseite zu kommen.
Kein Umweg! Schwungvoll trete ich ins Pedal und bin schon mit dem Vorderreifen auf der Straße, als mich eine schrille Stimme abrupt abbremsen lässt.
»Vorsicht!«, brüllt jemand.
»Ach du liebe Güte«, ruft eine Frau irgendwo hinter mir.
Beim nächsten Luftschnapper rast ein Wagen so schnell an mir vorbei, dass mir die Haare wehen, und ich stelle hektisch den Lenker quer.
Gerade noch so schaffe ich es, nicht mit dem Rad umzukippen, da höre ich ein: »Weg da!«
Zwei Mountainbiker halten auf mich zu. Okay, nur einer, der andere bremst ab, aber der vordere ist zu schnell. Dazu schlingert er noch an einer Fußgängerin vorbei, die in diesem Augenblick über die Straße gehen will. Dann ist er bei mir. So schnell, dass ich wie die Maus vor der Schlange paralysiert die Luft anhalte.
Im letzten Moment kommt er mit einem atemberaubenden Bremsmanöver seitlich vor mir zum Stehen. Tack, macht es, als sein Hinterreifen meinen touchiert.
»Stehen Sie immer halb auf der Straße?!«, sagt er zu meinen Brüsten und nimmt seinen Helm ab.
Ich hätte doch den BH anziehen sollen.
»Sind Sie fertig mit der Überlegung, ob die beiden echt sind?«, rutscht es mir über die Lippen und er hebt irritiert den Blick.
»Wie? Oh, Verzeihung, ich …«
»Euch Männern ist es egal, ob Brüste natürlich sind, oder? Hauptsache …«
»Ist es nicht auch egal, ob es den Osterhasen gibt? Die Eier bringt er trotzdem«, kontert er schlagfertig. Finde ich normalerweise gut, heute jedoch nicht. Von dem kurzen Adrenalinschub schlägt mir das Herz immer noch bis in den Hals.
»Davon scheinen Sie ja reichlich zu haben!«
»Leider nur zwei.« Er lächelt und um seinen braunen Augen bilden sich Lachfältchen. »Das eben hätte echt übel ausgehen können.«
Sein Lächeln nimmt mir den Wind aus den Segeln.
»Ist ja noch mal gut gegangen«, erwidere ich sanft. Flirte ich etwa? Geht gar nicht! »Ich habe nur vermieden, mich lemminggleich auf die Straße zu stürzen, als da so ein Macho das Gaspedal durchgedrückt hat. Aber nett, dass Sie nachfragen. Schönen Tag noch!«
Nur weg von diesen irre schönen Augen.
»Verzeihung. Ich bin nur so …«
»Ja, ich auch.« Warum stehe ich immer noch bei ihm? Keine Ahnung, aber mein Körper entwickelt gerade ein Eigenleben und beschließt, nicht auf mich zu hören.
Alter Falter, sieht der Kerl gut aus! Wie der junge Gerard Butler. Sssexy! Und so volle dunkle Haare. Leicht wellig sind sie auch noch.
Verzeihung, Tobias. Du kannst ja nichts für deine Glatze.
In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen so schönen Mann gesehen. Meine Blicke wandern von seinem markanten Gesicht hinunter zu sehnig muskulösen Armen. Der Kerl könnte ohne Weiteres den Actionhelden in einem Hollywood-Blockbuster spielen. Er ist groß, hat einen athletischen, perfekt definierten Oberkörper und ein Sixpack, das sich unter dem eng anliegenden hellblauen Trikot deutlich abzeichnet.
Hellblau. Wie mein neues Kännchen.
Plötzlich ruft sein Bikepartner. »Hey, Josh. Ich geh schon mal in die Drogerie, ein Coolpack für mein Knie holen. Alles gut bei dir?«
Aha, ein Josh Gerard Butler.
Stopp! Das sollte mir ganz egal sein.
»Alles bestens, Leon«, ruft er zurück, ohne den Blick von mir abzuwenden, und ich merke, wie mir die Wangen warm werden.
»Wie heißen Sie?«, fragt er mich völlig aus dem Off.
Und weil ein fremder Mann mich nicht so frech anbaggern oder mit unverblümtem Nippel-Starren nach meinem Namen fragen darf, sage ich nur: »Finden Sie es raus.«

Safranschubser

Zitronenblau Josh1

Finden Sie es raus?
Mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet. Auch nicht, dass die kratzbürstige Blondine unvermittelt losfährt und mir überhaupt gar keine Chance gibt, herauszufinden, wie sie heißt. Ich kann ihr nur hinterherstarren – und den knackigen Po bewundern. Schöne Beine hat sie auch.
Da gibt es nichts zu rütteln, die Frau ohne Namen ist hübsch, hat große, unschuldige, ozeanblaue Augen und strohblonde Locken, die mit einem bunten Band um den Kopf in Schach gehalten werden.
Finden Sie es raus … Wie denn? Soll ich ihr hinterherfahren?
»Verdammte Harke«, zische ich zwischen den Zähnen hindurch und presse die Lippen aufeinander. Da lässt mich diese kesse Blondine einfach stehen. Mich!
Leons blonder Wuschelkopf taucht neben mir auf. »Die haben hier keine Coolpacks. Muss in die Apotheke. Auf dem Heimweg liegt eine. Du bist morgen am See?«
»Ja. Kannst du denn schon wieder aufs Board?«
Leon führt einen erfolgreichen E-Bike-Laden mit Radverleih und betreut mehrere Seen im Umkreis mit Stand-up-Paddling-Stationen. Er ist Sportler durch und durch. Aber mit ihm Mountainbike zu fahren, ist eine Herausforderung. Ihm ist kein Abhang zu steil, kein Weg zu schmal und kein Trail zu schwierig. Bei einem spontanen Drop vorhin – ein gerader Absprung, wobei die Landung tiefer liegt als der Absprung – hat er sich allerdings überschätzt und ist aufs Knie gefallen.
Ich blicke suchend zur anderen Straßenseite, kann die Blonde jedoch nirgends entdecken. Mist, ich habe nicht mitbekommen, in welche Seitenstraße sie abgebogen ist. Locke ist unwiderruflich weg und ich Idiot hab’s versemmelt.
Leon klopft mir auf die Schulter. »Logisch kann ich aufs Board. Das bisschen herumstehen schadet dem Knie nicht. Allerdings können wir ein paar Tage leider nicht gemeinsam für meinen Marathon trainieren. Und morgen muss ich im Laden sein, sorry. Ich weiß, du hast zwei Boards gebucht, aber du kannst deiner Felicia ja zeigen, wie es geht. « Er sieht auf die Uhr und grinst. »Dann fahre ich mal los. Ich habe heute Abend noch ein Date.«
»Die Dunkelhaarige vom Biergarten letzte Woche? Heißes Teil.«
»Nein, die ist verheiratet. Eine andere. Habe sie erst gestern bei einem SUP-Schnupperkurs kennengelernt und wir treffen uns heute in der Altstadt. Vielleicht spazieren wir den Philosophenweg hoch.«
»Leon, Leon … Das machst du immer mit deinen neuen Eroberungen. Schaffen sie den Weg hoch, ohne aus der Puste zu kommen, kommen sie in die engere Wahl.«
»Quatsch. Die Aussicht von dort oben ist romantisch. Frauen mögen das.«
»Frauen mögen auch edel ausgeführt werden und Kerzenschein. Vielleicht mehr als eine halbe Stunde den Berg hochkeuchen?«
»So hat eben jeder seine Strategie. Du deine, ich meine.« Leon zuckt mit den Schultern.
»Der Frauentyp spielt dabei auch eine Rolle, vermute ich. Du pickst dir nur die Sportgranaten raus. Aber auch die sind einem romantischen Abend bei Kerzenschein nicht abgeneigt.« Ich setze den Helm auf und steige aufs Rad. »Wir telefonieren?«
»Klar. Und sobald mein Knie Ruhe gibt, können wir gemütlich die Dreißig-Kilometer-Marke anstreben.«
»So, wie ich dich kenne, klingelst du spätestens übermorgen durch.«
Leon grinst, wir verabschieden uns und fahren in unterschiedliche Richtungen davon. Leon nach Dossenheim, ich nach Heidelberg-Schlierbach. Vor mir liegt noch gut eine halbe Stunde Fahrt, in der ich überlege, ob ich die Damen meiner Wahl anstatt in ein feines Restaurant auf einen Spaziergang einladen sollte. Erst danach das Restaurant sowie der obligatorische Drink bei mir zu Hause? Ich weiß nicht. Klingt anstrengend. Ich mache nicht gern viel Aufhebens um eine Sache, die von vornherein klar ist. Warum erst spazieren gehen, wenn wir sowieso im Bett landen? Ein schönes Restaurant, Kerzenschein und ein bisschen Alkohol reichen in der Regel.
Außer, die Kleine haut mir einfach ab. Ich habe ihr nicht mal meine Telefonnummer zustecken können.

Zwei Stunden später sitze ich im romantisch-historischen Fine-Dining-Restaurant Le Gourmet einer Frau gegenüber, die ich mir wohl beim ersten zufälligen Treffen in einer Bar schöngetrunken haben muss. Allein das Ambiente um mich herum und das vorzügliche Menü trösten mich über die Tatsache hinweg, dass ich das Mädel im Laufe des Abends irgendwie loswerden muss, ohne sie zu kränken oder vor den Kopf zu stoßen.
Schwierig. Ich bin ja kein Unmensch.
Ich will nur meine Freiheit nicht aufgeben. Und insbesondere diesen Abend nur äußerst ungern mit einer Frau vögeln, deren Stimme an das Kratzen einer Gabel auf Schieferplatte erinnert und die mir seit der Vorspeise von den neuesten Ereignissen bei DSDS erzählt.
Dieter Bohlen soll wieder dabei sein. Aha, ist ja hochinteressant. Ich bin trotzdem höflich – sie kann ja nichts für ihre Stimme –, genieße das rustikale Flair auf stilvollem Parkett und mit rotem Samt bespannten Wänden, den vorzüglichen Weißwein und die Muscheln mit einem köstlichen Safran-Fenchel-Topping.
»Was ist das?« Christine nimmt ein Safranfädchen zwischen Daumen und Zeigefinger und hebt es hoch.
»Das ist Safran.«
»Und was ist Safran?«
Das Klingeln meines Handys rettet mich vor einer Antwort. »Entschuldige, da muss ich dran«, sage ich eilig. »Was Geschäftliches. Ich bin gleich wieder da.«
Das mit dem Geschäftlichen ist nicht mal geschwindelt.
Auf dem Weg zur Herrentoilette nehme ich das Gespräch meines Geschäftspartners Daniel Ebeling entgegen.
»Joshua! Endlich kriege ich dich an die Strippe. Siehst du nicht auf deine Nachrichten? Schon vor ein paar Stunden habe ich dir eine Frage gestellt.«
»Nein, ich war unterwegs. Es ist Freitag, da haben die meisten Menschen ab Nachmittag frei.«
»Wir nicht, wir leiten den Laden. Wir arbeiten immer und rund um die Uhr.«
»Du vielleicht«, sage ich und kontrolliere im Spiegel den Sitz meines anthrazitfarbenen Sakkos. »Freizeit ist wichtig. Lohnende Pausen einlegen, Ruheinseln schaffen. Sonst kippst du irgendwann um. Aber was ist denn so wichtig, dass du mich am Wochenende sprechen musst?«
»Wenn du dich mal bequemen könntest, nach Frankfurt zu kommen, hätten wir das bei einem gemütlichen Mittagessen in der Stadt besprechen können«, sagt er vorwurfsvoll.
Ich sehe Daniel förmlich vor mir, wie er sich im Bürosessel zurücklehnt, den Wohlstandsbauch herausstreckt und sich über sein schütteres Haar streicht.
Mein einst bester Freund aus Studientagen und seit ein paar Jahren Mitinhaber unserer Firma GrowDeLuxe hat sich im Laufe der Jahre nicht gerade zu seinem Vorteil entwickelt. Früher ist er eine Sportskanone gewesen, immer auf Achse und gut drauf. Ein offener, lebensbejahender Mensch. Mittlerweile ist aus dem kernigen Frauenschwarm ein unfittes Michelinmännchen geworden, der kaum jünger als fünfzig aussieht, obwohl er genauso alt ist wie ich.
Bislang ist jedoch jeder Versuch gescheitert, mit ihm darüber zu reden. Eine Phase. Geht vorüber. Sagt er.
Wir sind unterschiedlich wie Tag und Nacht und gerade deswegen ergänzen wir uns. Er ist der Finanztyp, ich mehr der Kreative. Eine effiziente Kombination. Das haben wir schon früh festgestellt und eine gemeinsame Firma gegründet. Am Anfang hätte keiner von uns gedacht, dass sich GrowDeLuxe Sportswear & Shoes in ganz Europa einen Namen machen würde. Offenbar haben wir mit funktionellen und heißen Modetrends, bei denen sportliche Outfits und Boyfriend-Artikel dominieren, aufs richtige Pferd gesetzt.
»Du wolltest das Rauchen aufgeben«, sage ich knapp. »Ganz nebenbei weißt du, dass ich mehr die unsichtbare Eminenz im Hintergrund bleiben möchte. Außerdem schließen sich die Begriffe gemütlich Essen und Frankfurt-Innenstadt gegenseitig aus. Du könntest auch in mein Büro nach Schlierbach kommen. Um die Ecke ist ein fantastischer Biergarten. Aber lassen wir das. Was ist jetzt so dringend?«
»Du musst Rodriguez vertreten, er liegt nach einem Tauchunfall im Krankenhaus. Wie du weißt, sind ab Donnerstag …«
»… drei Verkaufsshops in Spanien zu eröffnen. Ich weiß. Haben wir niemand anderen, der das übernehmen könnte? Wie sieht es mit Gruber aus? Der spricht perfekt Spanisch.«
»Mit der Familie auf einer USA-Rundreise.«
»Spanien, hm? Also gut. Wenn ich eingehend darüber nachdenke, hätte ich sowieso Lust auf Rioja, spanische Oliven, Tapas, Iberico und Manchego.«
»Du sollst nicht Dolce Vitaen, sondern arbeiten, Joshua von Greiffenberg.«
»Dolce Vita ist Italien, Kumpel. Nur so am Rande. Aber wie wäre es, wenn du zur Abwechslung kreativ tätig wirst, die nächste Kollektion mit den Designern besprichst, optimale Shopstandorte ermittelst und Spanisch lernst? Ich arbeite. Ziemlich effektiv sogar. Ansonsten wären wir nicht da, wo wir sind.«
Ab und zu muss ich meinen Geschäftspartner ein bisschen zurechtstutzen.
»Alles gut, Freund. Ach ja, ich sitze gerade über der Optimierung der Personalkosten. Schätze, wir müssen uns zumindest in der Hauptfiliale etwas verschlanken.«
»Personalabbau? Ich sehe spontan nicht, dass wir einen zu großen Mitarbeiterstamm hätten. Wie kommst du darauf? Aber gut, das ist deine Baustelle zusammen mit der Personalabteilung.«
»Richtig. Trotzdem müssen wir beide einen eventuellen Sozialplan absprechen.«
»Gut, dann setzen wir uns eben nächste Woche kurz zusammen.«
»Schön, dann bis Montag.«
In der Zwischenzeit hat meine weibliche Begleitung jede Menge Safranfädchen am Tellerrand aufgehäuft.
»Liebe Christine«, beginne ich. »Leider müssen wir den Abend vorzeitig beenden. Ich muss auf eine kurzfristig anberaumte Geschäftsreise und entsprechende Vorkehrungen treffen. Es tut mir unglaublich leid. Wenn du magst, bringe ich dich selbstverständlich gerne nach Hause.«
Zu meiner Verwunderung bekommt sie Schluckauf. Nein, kein Schluckauf. Sie lacht nur. Und winkt ab.
»Na, Gott sei Dank. Mann, bin ich erleichtert!« Zweimal Schluckauf, dann beugt sie sich vor, als verrate sie mir ein Geheimnis. »Ich kann nämlich mit dem ganzen Schickimicki und Safranzeug und Muscheln nix anfangen. Ist mir zu abgehoben. Aber nach Hause fahren kannst du mich gerne. Die Busfahrt hierher war echt lang.«
»Von wo kommst du denn?«
»Von Ludwigshafen.«
»Oh.« Das arme Mädel hat den weiten Weg auf sich genommen, nur um im Safran herumzustochern und sich unwohl zu fühlen. Das ist mir mehr als unangenehm. Natürlich werde ich sie nach Hause fahren.

Später am Abend sehe ich mir die drei Standorte der Shops sowie die Eröffnungstermine an und muss breit grinsen. Leon wird sich freuen, dass wir beide den Marathon gemeinsam laufen können, wenn ich schon zufällig in der Gegend sein werde.
Und vielleicht sollte ich meine Strategie in Bezug auf Frauen überdenken.
Insbesondere in Bezug auf eine blondgelockte Radfahrerin. Ich muss unbedingt in Erfahrung bringen, wer sie ist. Nach meiner Reise.

Nervennahrung

Zitronenblau Anni2

Volles Haar und glühende Gerard-Butler-Augen hin oder her, das spielt keine Rolle. Ich bin in einer festen Beziehung. Sehr fest. Total fest. Schon lange richtig fest.
Okay, träumen und schmachten sind erlaubt. Ich darf mir ganz für mich alleine vorstellen, wie ich mit den Fingern durch seine dunklen Haare fahre, seinen Atem auf meinem Bauch spüre und … Mist! Mein Puls ist jenseits des Tempolimits.
Was daran liegt, dass ich schon mal deutlich fitter gewesen bin. Ich schnaufe, als wäre ich noch nie mit dem Rad den Berg hochgefahren und meine Oberschenkel brennen wie die Hölle.
Pause! Dringend!
Ich halte an, atme durch und blicke über die Schulter. Warum eigentlich? Die Straße Richtung Wald in dem spärlich bebauten Wohngebiet ist wenig befahren. Außer mir ist niemand in Sichtweite.
Und doch hat ein winziger Teil in mir gehofft, dieser Josh wäre mir hinterhergefahren.
Weil er wissen will, wie ich heiße. Weil er mich attraktiv findet. Weil er so von mir fasziniert ist, dass er mir folgt und deswegen irgendeinen superwichtigen Termin verpasst.
Während ich das Rad langsam den Berg hochschiebe, frage ich mich, ob ich noch ganz dicht bin. Bin ich wirklich so ausgehungert nach Komplimenten? Tobi liebt mich, das weiß ich. Er muss es mir nicht beweisen oder mich mit Liebesgesäusel erneut erobern.
Obwohl, das wäre schon schön.
Zu Hause angekommen ist mein Puls halbwegs im grünen Bereich. Ich lege das Paket auf den Wohnzimmertisch, öffne die Terrassentür und grinse in mich hinein. Es tut gut, zu wissen, dass man auf Männer noch anziehend wirkt.
Du lieber Himmel, was denke ich denn da? Ich bin dreißig, nicht dreiundachtzig.
Von nebenan strömt mir ein köstlicher Duft von irgendwas Gebratenem in die Nase.
»Hunger!«, vermeldet mein Gehirn, gibt die Information sogleich an den Magen weiter und der antwortet mit einem lauten Knurren. Dann höre ich Mike fragen, wer alles eine Folienkartoffel will.
ICH!
Ping. Mein Handy. Nachricht von Tobi.
Mäuschen. Es wird bestimmt Mitternacht. Ich fahre noch einen Kollegen nach Hause. Außerdem regnet es gerade ziemlich heftig und es geht schleppend vorwärts. Ich melde mich.
Seufzend und voller Sorge denke ich an die mehrstündige Fahrt, die noch immer zum größten Teil vor ihm liegt. Ganz alleine. Ohne dass ich neben ihm sitzen und ihn wach und bei Laune halten kann. Ich antworte: Fahr vorsichtig. Und ja, bitte melde dich. Hab dich lieb.
Mit einem Male verspüre ich ein dumpfes, beklemmendes Gefühl. Ich habe Angst um Tobias. Es passiert so viel auf der Autobahn, gerade bei Regen, gerade bei Nacht und wenn man übermüdet ist. Seltsam, ich habe doch sonst nie solche Gedanken, wenn er auf Geschäftsreise ist.
Bitte, lieber Gott, bete ich still, lass es aufhören zu regnen und meinen Tobi gesund und am Stück, bestenfalls lebendig, zurückkommen. Jetzt, wo ich mich doch wirklich zusammengerissen habe, nicht mehr an smarte Mountainbiker mit dichtem Haar zu denken.
Ich packe das Kännchen aus, freue mich, dass es noch schöner aussieht als auf den Produktfotos. Mit den Gedanken bei Tobi gehe ich mit einer Schere in den Vorgarten und hole mir einen weiß-rosa Glücksmoment ins Haus. Der herbstliche Strauß aus Amazonaslilien, weißen Rosen, prallen, rosafarbenen Schneebeeren und Nelken macht sich in der Vase richtig gut. Ich stelle sie auf den Terrassentisch und sehe aufs Handy. Keine Antwort von Tobi.
»Anni?« Sabina steht am hüfthohen Holzzaun, der unsere Gärten voneinander trennt. Sie hat die Haare hochgesteckt und trägt ein einfaches, gerade geschnittenes, weinrotes Strandkleid. Selbst darin sieht sie einfach nur sexy aus. Das ist gemein. »Kommst du rüber? Oder ihr? Ist Tobi schon da? Wir haben viel zu viel auf dem Grill liegen und brauchen Hilfe.«
»Ich komme und bringe Steaks mit. Was gibt es denn bei euch? Folienkartoffel hab ich schon mitgekriegt.«
»Oh, so einiges. Tsatsiki, Weißbrot, Scampi auf dem Spieß, Grillgemüse, spanische Merguez, Gemüsefrikadellen, Datteln im Speckmantel, Salat, als Nachtisch gibts Spaghettieis.«
Bei ihrer Aufzählung läuft mir das Wasser im Mund zusammen und ich weiß jetzt schon, nach diesem Abend werde ich völlig überfressen ins Bett fallen und schwören, nie wieder was zu essen!
Spaghettieis! Eine Badewanne voll, bitte! Mit viel Erdbeersoße, Sahne und Kokosstreuseln!
Ich fange einfach mit dem Nachtisch an und gehe dann zum Rotwein über.
Gute Idee.
Nervennahrung ist angesagt. Ich werde erst entspannt, wenn Tobi gesund zu Hause ankommt.
Ich nehme die zweite Dusche an diesem Tag, weil ich vom Radfahren immer noch verschwitzt bin. Der Wasserstrahl läuft mir lauwarm über den Rücken und ich schrubbe meine Haut mit dem Sisalschwamm butterweich. Danach creme ich mich mit meiner blumig duftenden Hauchzartlotion ein, die Tobi so sehr an mir liebt. Allerdings entdecke ich Orangenhaut an meinen Oberschenkeln. Die war doch gestern noch nicht da? Ich drücke entsetzt die Haut zusammen. Tatsächlich. O Gott, das sieht ja aus wie eine überreife Orange! Wo kommt das denn jetzt so plötzlich her? Frechheit!
Anni, mach dich nicht verrückt. Tobi liebt dich auch mit Dellen.
Zumindest hat er das gesagt. Er findet meine Rundungen weiblich.
Ich erinnere mich an unsere letzte Nacht. Es ist ein Freitag gewesen, wir sind gut angesäuselt von einer Party nach Hause gekommen und haben das getan, was wir freitags immer tun. Heute ist auch Freitag. Ich freue mich auf Tobis zärtliche Hände, die über meine Hüften gleiten.
Aber immer nur freitags.
Warum fühle ich mich jetzt alt?
Weil du spinnst?
Stimmt! Ich sollte nicht so viel denken und an mir zweifeln und mich fragen, ob es das jetzt schon alles gewesen ist und wann wir ernsthaft über Kinder reden. Meine Mutter erinnert mich immer daran, wenn ich zum Essen bei meinen Eltern bin. Und einmal die Woche per Telefon.
Nachdenklich knote ich meine Haare locker am Hinterkopf zusammen, werfe mir ein luftiges Sommerkleid mit Halbärmeln über und ziehe ein Strickjäckchen darüber. Sollte es unerwartet abkühlen, hat Sabina immer eine Decke parat.
Eine kleine Drehung vor dem Spiegel. Ja, sieht ganz gut aus. Ich fühle mich wohl in dem hellgrünen, schlichten Baumwollkleid. Die Farbe steht mir. Meine Brüste könnten allerdings kleiner sein.
Sabina beneidet mich um meine Oberweite, aber sie hat von dem Struggle mit großen Brüsten keine Ahnung. Sie kann einfach alles tragen. Ich muss darauf achten, dass meine Shirts oder Kleider einen V-Ausschnitt haben. Das streckt. Cocktailkleider liebe ich zwar, aber die tragen furchtbar auf und lassen mich schwanger wirken. Und Jacken oder schicke Blazer fürs Büro muss ich eine Nummer größer kaufen, damit ich sie auch zumachen kann. Okay, sooo schlimm ist es nicht, ich bin weit entfernt von Doppel-D. Aber auch weit von Sabinas B-Körbchen.
Man will ja immer, was man nicht hat.
Kleinere Brüste zum Beispiel oder einen neuen Job. Ich sollte mir einen Job in der Nähe suchen. Möhre zuliebe. Und mir auch.
Blick aufs Handy. Tobias hat sich immer noch nicht gemeldet. Ich rufe ihn an, aber sein Telefon ist ausgeschaltet. Oder er ist in einem Funkloch.

Um ein Uhr in der Nacht ist Tobi immer noch nicht da, ich bin pappsatt, habe Unmengen von Spaghettieis in mir und mindestens ein Glas Wein zu viel. Nein, eher zwei. Und Tobis Steak liegt im Kühlschrank und wartet. Genauso wie ich.
»Ach, dein Dekolleté, Anni«, nuschelt Sabina um ihr Rotweinglas herum und hängt mir mit der Nase fast im Ausschnitt. »Du bist echt gesegnet. Ich muss Push-ups tragen, um unterhalb vom Hals keine Platte zu haben.«
»Und ich will deine Haare, deine Minititten und deinen Apfelarsch.«
»Birne«, bemerkt Mike trocken und sieht auf die Uhr.
»Wie, Birne?« Sabina schlägt ihm spielerisch auf den Oberarm. »Hast du gerade gesagt, ich hätte einen Birnenarsch?«
»Einen süßen, kleinen Birnenpo, Schatz. Der schönste der Welt.«
»Du Süßholzraspler. Sag’s mir nachher unter vier Augen noch mal«, kichert sie und kuschelt sich an ihn. Diese liebevollen Gesten der beiden versetzen mir einen kleinen Stich.
Es wäre so schön, wenn Tobi jetzt hier wäre. Romantisches Kerzenlicht und entspannende Chillout-Musik ohne männliche Kuschelschulter ist nur halb so schön.
»Kommt Tobias heute noch?«, will Mike wissen, als könne er Gedanken lesen, und ich zucke mit den Schultern.
Immer wieder habe ich bei ihm durchgeklingelt. Ohne Erfolg. Genauso erfolglos habe ich den ganzen Abend über versucht, die dumpfe Angst auszublenden, ihm könnte was passiert sein.
»Ich denke schon«, sage ich und gähne verhalten in meine Hand. »Wenn er einen Unfall gehabt hätte, wüsste ich das schon.«
»Kein Unfall. Guten Abend. Es ist Freutag! Herrlich, oder? Ist für mich noch ein Platz frei?«
Tobias! Endlich!
Mein Mann hält eine Flasche Wein in der Hand und klettert kurzerhand über den Gartenzaun. Mir fällt ein Gebirge vom Herzen.
Da ist ja meine Kuschelschulter.

Am nächsten Morgen schmiege ich mich wohlig seufzend an Tobis nachtwarmen Männerkörper.
»Guten Morgen. Schon wach?«, sagt er leise.
»Nein.« Ich mag meine Augen noch nicht öffnen. »Du?«
Im Gegensatz zu Mike und Sabina können wir ausschlafen. Mit Kindern ist daran nicht zu denken. Die Zwillinge toben schon morgens um sechs mit einer Energie durchs Haus, die ich nicht mal nach fünf Tassen Kaffee aufbringen könnte.
»Hm ja, ziemlich«, sagt er irgendwie emotionslos und setzt sich auf. Dabei hat er mir den Rücken zugewandt und streicht sich mit beiden Händen über die Glatze.
Schlagartig bin ich hellwach, schlinge die Bettdecke um mich, als wäre es mir unangenehm, dass er mich nackt sieht.
»Ist irgendwas? Probleme in Zürich? Mit dem Auto?« Sein Geschäftswagen macht seit ein paar Tagen Mucken. Irgendwas mit der Elektronik. Da lobe ich mir Möhre. Sie kann man zur Not mit dem Hammer reparieren. Bis auf die Klimaanlage.
»Nein, nein«, antwortet er fahrig. »In der Beziehung ist so weit alles in Ordnung.«
»In der Beziehung …?« Irgendwie benimmt er sich anders als sonst.
Tobi seufzt und dreht sich halb zu mir. In seinem Blick liegt ein ähnlicher Ausdruck wie in dem Moment, als wir beschließen mussten, Bandit einzuschläfern, weil sein alter Hundekörper völlig verkrebst gewesen ist.
»Anni, wir müssen reden.«
Warum sieht er mir nicht in die Augen?
»Das tun wir gerade.« Mir wird ganz flau im Magen. »Wie heißt sie?«
Noch niemals bin ich morgens um diese Uhrzeit ohne mindestens zwei Portionen Koffein im Blut so klar im Kopf und hellwach gewesen. Ich höre mich die Worte sagen und weiß gleichzeitig, dass ich voll ins Schwarze getroffen habe. Und das lässt mich erstarren und schlagartig innerlich vereisen. Ich schlinge das Betttuch enger um mich.
»Wie meinst du das?«
»So, wie ich es sage. Wie heißt sie? Wie heißt die Kollegin, die du angeblich nach Hause gefahren hast.« Ich kann ihn nur ansehen und weiß nicht, ob ich heulen oder ihm eine runterhauen soll. Vielleicht täusche ich mich ja auch. In mir glimmt ein letzter Rest Hoffnung wie ein einsames Glühwürmchen in der Nacht. »Tobi?«
Keine Antwort auf eine Frage kann die klarste Antwort sein.
Er seufzt, sieht mich an wie ein geprügelter Hund und legt eine Hand auf mein Bein. Ich zucke instinktiv zurück und starre ihn an.
»Es tut mir leid, Anni.«
»Was!? WAS tut dir leid?«
Und dann stirbt mein Glühwürmchen.

Zitronenblau Blume

Ich hoffe, der Anfang von ZITRONENBLAU hat dir gefallen, und du bist jetzt neugierig, wie es weitergeht.

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