Leseprobe „Ein Hauch von Schnee und Herz“
von Jo Berger
Willkommen in Hope Valley – wo der Winter magisch, der Handyempfang ein Witz und attraktive Männer Mangelware sind. Ich bin Lily, 30, Mechanikerin mit Herz, Dorfmädchen und amtierende Dauersingle-Queen. Liebe? Hier? Vergiss es.
„Raus aus deiner Bubble!“, sagt meine beste Freundin Fran und schleppt mich nach London. Volltreffer. Dort läuft mir Chase über den Weg – Fotograf, heiß, prominent und ungefähr so dorfkompatibel wie ein Gucci-Mantel im Kuhstall. Aber egal, wie sehr ich mich dagegen wehre: Der Typ geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Und offenbar ist das Gefühl gegenseitig. Plötzlich steht er vor meiner Tür – mitten im Schneegestöber.
Wir kommen uns näher, aber dann muss Chase eine Entscheidung treffen, die alles auf den Kopf stellt: Bleibt er in Hope Valley oder kehrt er in sein altes Leben zurück?
In Hope Valley wird’s alles, nur nicht langweilig.
Küsse, Chaos und kalte Füße
~ Lily ~
Der Schnee fällt in dicken Flocken vom Himmel.
Mit einem wohligen Seufzer ziehe ich mir das Sofakissen auf den Schoß, umarme es und blicke versonnen aus dem Fenster. Dylan ist mal eben ins Bad, ein paar Liter Tee wegtragen, wie er gesagt hat, und ich finde es ein bisschen schade, dass er schon abreisen muss. Wir haben uns ja gerade erst kennengelernt. Aber nun ja, so ist das eben. Nichts ist auf Dauer. Auch der Winter nicht. Schade eigentlich.
Nicht mehr lange und in Hope Valley wird der Schnee hüfthoch liegen. Als ich ein kleines Kind war, sagte meine Mom immer dann, wenn es viel schneite – und glaube mir, in Hope Valley schneit es sehr, sehr viel –, das wäre nur ein Hauch von Schnee. Im Vergleich zu der Menge, die in hundert Jahren fällt, wäre das ein Hauch.
Tatsache ist es jedoch, dass in dieser Gegend oft Schneestürme übers Land ziehen. Und dann fällt alles aus. Strom, die Kommunikation, alles. Deswegen haben wir hier alle im Winter Kaminfeuer, batteriebetriebene Leuchten, Petroleumlampen und viele Kerzen im Haus. Einige haben Aggregate, wie zum Beispiel das kleine Hotel am Dorfplatz. Trotz der manchmal archaisch anmutenden Lebensweise liebe ich dieses kleine Dorf mitten im Nirgendwo. Jeder kennt jeden und wir sind eine tolle Gemeinschaft. Vielleicht empfinde ich das auch nur, weil alles so schön vertraut ist? Ich bin hier geboren, meine Eltern leben nicht weit von mir in einer kleinen Seitenstraße und vor ein paar Jahren bin ich in das Haus meiner Großeltern gezogen, die leider den Weg gegangen sind, den wir alle irgendwann gehen müssen.
Ach du liebe Güte, morgen muss ich unbedingt einkaufen.
»Tomaten«, nuschele ich gedankenverloren.
»Wie bitte?« Dylan kommt zurück und ich werfe einen Blick auf seinen Körper. Er ist groß, ziemlich gut gebaut und er hat einen Vollbart. Mag ich zwar nicht, aber ich mag auch mein Bäuchlein nicht. Meine Freundin Claire sagt, das wäre eine Kuschelzone. Soll mir recht sein. Ich esse zu gerne, bin halt ein Genussmensch.
Ich grinse Dylan an. »Also wenn ich wie bitte frage, ist das die letzte Chance für mein Gegenüber, ratzfatz ins Zeugenschutzprogramm zu wechseln. Aber dir geb ich eine Runde Vorsprung.« Der Mann versteht meinen Humor nicht und sieht mich stirnrunzelnd an. »Guck nicht so, war ein Scherz. Ich muss noch Tomaten für die Pizza kaufen.« Ich lege das Kissen zur Seite und sehe zu, wie Dylan seinen dicken Pulli über das eng anliegende, olivfarbene Shirt zieht.
Dylan ist ein Tourist, leider. Es passiert nicht oft, dass sich ein attraktiver Mann in unser Kaff verirrt und sich darüber hinaus ein paar Tage in unserem kleinen Hotel einmietet. Schade, dass er schon abreisen muss. Gerade mal eine Woche war er hier in Hope Valley, und bis auf ein paar Küsse vor dem Kaminfeuer ist nichts passiert. Wir haben uns kennengelernt, als er seinen Mietwagen mit einem defekten Rücklicht in meine Werkstatt brachte. Wo kommt er noch mal her? Ah ja, Deutschland. Aber er spricht ein wirklich gutes Englisch.
Ich fühle mich zwar nicht sonderlich gut dabei, mit Dylan einfach so geknutscht zu haben, aber hey, in der Not frisst der Teufel Fliegen. Außerdem ist nichts passiert. Verdammt, ich bin zu jung, um mich wie eine Nonne zu benehmen, aber irgendwie wollte ich nicht mit ihm schlafen. Warum auch immer.
Also doch Nonne. Der Gedanke liegt erschreckend nahe, denn in Hope Valley herrscht massiver Männermangel. Ich beneide Claire. Sie und Mason kannten sich schon länger, doch Masons Freundin hatte beschlossen, Hope Valley den Rücken zu kehren und in London Fuß zu fassen. So kam es, dass Mason, der einzige Elektriker in Hope Valley, irgendwann bei Claire eine defekte Leitung auswechseln musste. Im Laufe der Reparaturarbeiten haben sich die beiden ineinander verliebt und ein Jahr später geheiratet.
Und ich … Reden wir nicht drüber.
Nach und nach verschwinden die unter dem Shirt deutlich sichtbaren Muskeln Dylans durchaus attraktiven Körpermitte unter dem Pullover. Dylan besitzt die reizvollsten sechs Ausbuchtungen zwischen Brust und Lenden, die ich jemals gesehen habe.
Ha, ha. Innerlich kurz aufgelacht. So viele habe ich noch nicht gesehen. Und schon gar nicht berührt. Ein Armutszeugnis für eine Frau von dreißig. Ein Wunder, dass ich nicht noch Jungfrau bin. Drei Jahrzehnte, drei Männer. Der erste blieb vier Jahre bei mir, dann verabschiedete er sich jobbedingt in die USA, gerade als ich meine eigene Autowerkstatt eröffnet hatte. Der zweite war ein Tourist vor fünf Jahren. Oder waren es sechs? Und jetzt Dylan. Und das nicht mal richtig. Welche Farbe haben eigentlich seine Augen? Es will mir nicht einfallen. Dafür vervollständige ich den Einkaufszettel: Klopapier, Kaffee und …
Sollte ich Dylan bitten, die Nacht bei mir zu verbringen?
Rotwein, Zahnseide, Essigessenz.
Ich mag Dylans Art, wie er mich berührt hat, sein Sixpack unter dem Shirt, das ich mit den Händen ertastet habe, den Geruch eines herben Rasierwassers.
Bodylotion, Haarkur.
Mir fehlt was, nicht nur wohlriechende Lotion. Es fehlt die Musik in mir, die ich von einer romantischen Begegnung erwarte, der Klang, den Claire beschrieben hat und der wie eine wild gewordene Horde Schmetterlinge in der Bauchhöhle vibriert, sobald ein Mann es versteht, diese Saite anzuschlagen. Ich spüre auch dieses Mal den Sound der Verliebtheit nicht. Mal wieder. Aber wie gesagt, so viele Gelegenheiten hatten sich mir ja noch nicht geboten, und Touristen, die Tausende von Meilen entfernt leben, sind sowieso weiträumig zu umgehen. Also künftig. Noch mal gebe ich mir das nicht.
Dylan setzt sich zu mir aufs Sofa und fährt mit den Fingerspitzen über meinen bestrumpften Fußspann. »Du bist schon eine Wahnsinnsfrau! Aber ich gehe jetzt, muss morgen früh raus, um meinen Flug zu erreichen.« Er streicht mir über die Haare, bevor er in den Flur hinüber geht, um seine Schuhe anzuziehen.
»Schon okay«, sage ich eine Spur zu fröhlich und begleite ihn zur Tür. »Grüß Deutschland unbekannterweise von mir.«
»Mach ich. Schön war’s bei dir, Lily. In dieser Einöde könnte ich zwar nie leben, aber für ein paar Tage ist es ganz nett.« Leise zieht er die Tür hinter sich ins Schloss.
Mit einem bitteren Nachgeschmack mache ich mich bettfertig, kuschele mich in die Daunen und starre an die Decke. Einöde …
Butter, Mineralwasser, Mikrofasertücher.
Ich sollte einen Einkaufszettel machen.
Mit nackten Füßen gehe ich in die Küche und kritzele alles, was ich einkaufen muss, auf einen Zettel, bevor ich noch was vergesse. Verdammt. Der Boden schickt mir die Kälte durch die Fußsohlen in den Körper, als würde ich auf einer Eislaufbahn spazieren. Das alte Haus, das ich von meinen Großeltern geerbt hatte, verfügt neben einem schönen alten Dielenboden und ihrem besonderen Flair über einen zwar antiquarischen, jedoch im Winter frostigen Fußboden. Viel zu kalt, um barfuß rumzulaufen. Dabei liebe ich das. Doch wenn die Füße eisige Klumpen sind, ist die ganze Frau kalt.
Zähneklappernd stecke ich meine Füße in kuschelige Hausschuhe und schlüpfe in einen Bademantel.
Küsse ohne Schmetterlinge. Das brauche ich nicht. Ich bin es so leid, allein zu sein.
Ich bereite mir einen Earl Grey zu, gebe viel Zucker hinein, wickele mich in eine Decke und kuschele mich aufs Sofa. Draußen schneit es immer stärker. Mal wieder. Wie jedes Jahr. Hope Valley wird bald von der Außenwelt abgeschnitten sein. Ebenfalls wie fast jedes Jahr.
Dylan. Schöner Name, schöner Mann. Ich stehe auf, kippe mir Rum in den Tee und trinke ihn, während ich vor dem Fenster stehe und dem Schneetreiben zusehe.
Spreche ich etwa ausschließlich eine konkrete Zone des männlichen Körpers an? Männer heiraten anständige Frauen. Anmutige, mit Familiensinn. Sie wollen sanfte Wesen mit entzückenden Augenaufschlägen, die ihre Köpfe leicht neigen, wenn sie zuhören. Das ist anscheinend die besondere Note, die in jedem Mann den Beschützerinstinkt weckt, sofort ans Herz geht und nicht an die Hose.
Und ich? Mir fehlt diese zarte Note, ich bin eher die Frau fürs Grobe. Und nebenbei keine anständige. Quatsch! Natürlich bin ich anständig, sonst wäre ich mit Dylan im Bett gelandet. Aber ich bin auch kein Rehlein mit großen, unschuldigen Augen. Und schon gar keine Frau, die ihr Leben in die Hand eines Mannes legt. Dreimal laut aufgelacht. Ich repariere Autos, da darf man nicht zimperlich sein. Und ich mag mich, wie ich bin. Und der Mann, der es sein soll, muss mich wollen, wie ich eben bin. Einen Teufel werde ich tun, mich für irgendjemanden zu verbiegen. So weit käme es noch.
Ich sollte schlafen. Morgen wird ein langer Tag. Die Tasse Tee nehme ich mit ans Bett, trinke sie aus und drücke meine Nase ins Kissen.
Duftkerzen.
Das Telefon klingelt.
»Lily! Ich hab eine Idee!«, meldet sich meine Freundin Claire mit sich fast überschlagender Stimme. »Was hältst du von einem Kurztrip übers Wochenende, bevor wir hier eingeschneit sind? Ich brauche etwas Leben um mich herum.«
»Leben klingt gut. Wann?«
»Übermorgen geht ein Zug nach London. Und ich hätte ein kleines Zimmer für uns. Nur Souterrain, aber dafür preislich okay. Na, was sagst du?«
Im Kopf überschlage ich meine Termine. Der Wagen des alten Porridge – er heißt eigentlich George, aber er wird, seit ich denken kann, nur Porridge genannt – ist morgen fertig. Dann ist Wochenende.
»Okay, warum nicht? Lass uns Großstadtluft schnuppern. Kommt selten genug vor.«
ZWISCHEN GLITZER UND COFFEE TO GO
Die Wintermonate haben ihren ganz besonderen Charme. Auch wenn die Tage kurz sind und bereits am Nachmittag die Sonne untergeht, genieße ich diese Kuschelzeit.
Ich mag die kalte Jahreszeit fast genauso wie den Sommer, den Frühling und den Herbst. Wird es draußen kälter, ist Schaumbadzeit. Am liebsten mit Granatapfelduft. Ach, wie liebe ich das Knistern im Kamin, das warme Licht von Kerzen auf den Fensterbänken und den Duft von Orangen und Nelken. All das verleiht dem Häuschen einen ganz besonderen Zauber. Hier könnte ich mich täglich auf dem großen, dunkelroten Samtsofa vor dem Kamin einkuscheln und entspannt in die Flammen schauen, bis ich einschlafe.
Von Kuscheln und gemütlich vor einem knisternden Kaminfeuer sitzen bin ich jedoch ungefähr drei Zugstunden entfernt. Mir ist so kalt, dass ich mich nach meinem roten Kuschelsofa mit den unzähligen Kissen darauf sehne. Am liebsten würde ich jetzt mit einer Tasse Earl Grey in der Hand darauf sitzen und entspannt den Holzscheiten im Kamin zusehen, bis sie runtergebrannt sind.
Stattdessen flaniere ich mit Claire die Oxfordstreet entlang und frage mich, wer zum Teufel all diese Menschen sind. Ich, Lily aus dem beschaulichen Hope Valley in Derbyshire, gute 260 Kilometer entfernt von diesem Großstadtdschungel, die solche Menschenmassen nicht gewohnt ist. Die Masse hat auf mich eine ähnliche Wirkung wie ein Sturm. Ich will mich einfach nur wegducken. Aber hey, ich bin jetzt da und mache das Beste draus.
Heute ist der zweite Tag und ich bin erschlagen von den Eindrücken, den funkelnden vorweihnachtlichen Lichtern, den Weihnachtsmärkten und den festlich geschmückten Straßen. Und von der Kälte, die mir durch die dünnen Stiefelsohlen bis nach oben kriecht. Sind die Füße kalt, ist der ganze Mensch kalt. Ein Spruch meiner Oma, Gott hab sie selig.
Claire hakt sich bei mir unter. »Wenn es ganz dunkel ist, gehen wir ins Winter-Wonderland. Das wird der Hammer!«
»Ähm, das ist noch mal gleich wo? Moment, sag nichts. Hyde Park, richtig?«
»Volltreffer, Süße. Der schönste, beste, tollste Weihnachtsmarkt in London. Bis heute Abend um zehn können wir unter einem Himmel aus funkelnden Lichtern unsere Runden drehen.«
»Darauf freue ich mich wirklich. Danach können wir uns an der Fire Pit Bar am Feuer bei einem Glühwein oder so aufwärmen. Gibts da nicht auch Live-Musik?«
»Ja, ist das nicht toll? O mein Gott, Lily, schau mal, da drüben – ich glaub, die haben Sale!« Claire hakt sich bei mir ein, als müsse sie Halt suchen, und tänzelt wie ein ungeduldiges Fohlen neben mir her. Ich grummele ein wenig begeistertes »Ist ja Wahnsinn« und ziehe meinen Schal hoch bis zur Nase. Es ist saukalt, aber immerhin nicht so kalt wie zu Hause in Hope Valley.
***
Wer hätte gedacht, dass Shoppen so anstrengend sein kann? Meine Freundin ist natürlich in ihrem Element, zieht mich von Laden zu Laden, während ich versuche, mich nicht von den Menschenmassen überrollen zu lassen. Die Geräusche, die Gerüche, das ständige Gedränge – das ist eine ganz andere Welt als meine kleine Werkstatt. Dort kenne ich jedes Geräusch, jeden Geruch, jeden Kunden beim Namen. Hier fühle ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Aber hey, man lebt nur einmal, oder?
Ich überlege, ob ich nicht doch besser meinen Werkzeugkasten mitgenommen hätte. Man weiß ja nie, wann man einen braucht. Vielleicht könnte ich einen der roten Doppeldeckerbusse reparieren, nur zum Spaß. London mag chaotisch sein, aber es hat seinen ganz eigenen Charme. Und wer weiß, vielleicht komme ich ja mal wieder her – aber dann mit meinem eigenen Auto. Schließlich gibt es nichts, was ein Roadtrip nicht verbessern könnte.
Also, Prost auf neue Erfahrungen und darauf, dass ich in zwei Tagen wieder in meiner geliebten Werkstatt stehe, wo die Welt noch in Ordnung ist und der einzige Lärm von Motoren kommt, die ich zum Schnurren bringe.
Schnurren wäre mir eindeutig lieber als Zähneklappern vor Kälte. Die Sonne scheint zwar, aber ich friere trotzdem. London im Winter ist nicht wie bei uns zu Hause – da ist es zwar kälter, aber gemütlicher. Hier knallen einem die Menschenmassen entgegen, und die Sonne tut nichts, um die Kälte zu vertreiben. Ich sehe meinen Atem in der Luft und spüre meine Finger kaum noch, die ich tief in den Manteltaschen vergraben habe. Handschuhe vergessen. Irgendwas ist ja immer. Nebenbei beschließen meine Füße, die in abgenutzten Stiefeln stecken, sich zu Eisklumpen zu transformieren. Nase kalt, Hände kalt, Füße kaum noch spürbar. Ich hätte meine wärmeren Stiefel mitnehmen sollen. Kurzum: Ich bin ein wandelnder Eisklotz, habe so viel Lust zum Shoppen wie ein Pinguin auf eine Wüstendurchquerung. Ein warmer Kaffee wäre jetzt nicht schlecht.
»Könnten wir …«, starte ich den Versuch, meine Freundin zu überreden, in irgendein Café zu gehen oder uns zumindest einen Coffee to go zu holen, doch ich komme nicht dazu, meinen Satz zu beenden.
»Weißt du, wir sollten unbedingt zu Selfridges«, unterbricht sie mich und zückt ihr Handy, um irgendwelche Insta-Stories abzusetzen. Sie tut so, als wären wir gerade auf Weltreise, dabei sind wir nur auf einem Kurztrip hier.
»Sale, schon klar.« Ich seufze. Claire ist wie ein Wiesel auf Adrenalin, wenn es ums Shoppen geht. Warum habe ich mich nur von ihr überreden lassen? Du musst mal raus, hat sie gesagt. Mal, was anderes sehen als Ölwannen, Bremsschläuche und das langweilige Hope Valley.
Tja, irgendwie hat sie überzeugend gewirkt und ich habe spontan zugestimmt, bevor wir im Schnee in Hope Valley endgültig festsitzen. Klar, es gibt Schlimmeres, als im Winter in einem eingeschneiten Dorf zu leben, aber für Claire ist das die ultimative Katastrophe. »Bevor das Internet ausfällt, sollten wir noch mal was erleben!«, hat sie gesagt, und ich dachte mir, wieso nicht? Ein bisschen Abwechslung schadet ja nicht, und außerdem kann ich mich danach wieder auf meine Werkstatt konzentrieren – mein Heiligtum. Aber jetzt, wo wir mitten im Großstadttrubel Londons stehen, frage ich mich langsam, warum ich nicht einfach mit einer heißen Schokolade auf dem Sofa geblieben bin.
Claire strahlt mich an, steckt das Handy weg und zieht mich über die Straße. »Du wirst begeistert sein. Selfridges ist ein Muss! Und sie haben Sale! Komm!«
Brummend ergebe ich mich in mein Schicksal und lasse mich von ihr in den Laden ziehen. Meine glückliche Freundin ist in ihrem Element. Und ich … Na ja, bei mir hält sich die Begeisterung in Grenzen. Meine alte, apfelgrüne Daunenjacke und die Jeans passen hier nicht wirklich rein, das merke ich spätestens, als wir durch die Eingangstür von Selfridges stolpern.
Immerhin ist es warm. Mein erster Eindruck vom Äußeren des exklusiven Ladens festigt sich innerhalb von zwei, drei Minuten. Das hier ist absolut nichts für mich. Während meine Hände und Füße langsam zu kribbelndem Leben erwachen und ich mich wie ein Fremdkörper fühle, stöbert Claire schon mit leuchtenden Augen durch die Kleiderständer. Überall Glanz und Glamour und Preise, die mir den Atem verschlagen. Ich will einfach nur raus.
Ich folge meiner Freundin und zupfe sie am Ärmel. »Weißt du was, Claire? Ich glaub, ich lege eine Pause ein.«
Sie dreht sich mit einem Arm voller Klamotten zu mir um und sieht mich an, als hätte ich behauptet, Aristoteles habe nur philosophiert, um Zeit zu überbrücken, bis das Abendessen fertig war.
»Was? Wieso? Willst du nicht noch ein bisschen stöbern?«
Ich schüttele den Kopf und hebe entschuldigend die Schultern. »Nee, das ist mir alles zu viel hier drin. Ich geh in ein Café warte auf dich. Nimm dir alle Zeit der Welt.«
»Bist du sicher?«
»Nein, nimm dir bitte nicht alle Zeit der Welt. Scherz. Ich streck lieber die Nase in die Frischluft statt in Kleiderständer.«
»Okay, wie du meinst. Lily, ich werde dich nie verstehen.«
Schief grinsend drücke ich ihr einen Kuss auf die Wange, wünsche ihr viel Spaß und strebe eilig Richtung Ausgang. Hier drin duftet es so sehr nach Exklusivität, dass mir übel wird.
Und jetzt raus aus dem Glitzer-Overkill.
Draußen atme ich tief ein und fühle mich sofort besser. Die Luft ist frisch – nun ja, insofern man Londons Luft so bezeichnen kann – und ein bisschen schneidend, aber das ist mir lieber als der Trubel da drinnen.
Auf der anderen Straßenseite ist ein kleines Café. Juhu! Doch drinnen ist es leider so voll, dass die Leute schon für einen Platz anstehen. Also hole ich mir nur einen Coffee to go. Einen stinknormalen, kein Matcha-Latte oder so’n hipper Kram. Einfach nur Kaffee. Genau so mag ich’s.
Ich lehne mich an eine Hauswand, den Becher in der Hand, und schaue dem Treiben auf der Oxford Street zu. Menschen hasten vorbei, Autos hupen, Doppeldeckerbusse fahren auf und ab. Und während ich einen wärmenden Schluck aus dem Becher nehme, denke ich daran, wie viel ruhiger es jetzt in Hope Valley ist. Eingeschneit, still und die Internetverbindung wahrscheinlich gleich null. Ich lächle vor mich hin. Hier bin ich zwar mitten in der Großstadt, aber in Gedanken schon längst wieder bei meinen Autos und dem gemütlichen Chaos meiner kleinen Werkstatt.
Mit dem Becher in der Hand beobachte ich das Geschehen um mich herum. Menschen hasten vorbei, Autos hupen und die Doppeldeckerbusse fahren im Dauertakt auf und ab. Es ist London, die Stadt, die niemals schläft – oder so ähnlich. Und während ich so vor mich hin träume und an das verschneite Hope Valley denke, fällt mein Blick auf ihn.
O wow. Etwa drei Meter von mir entfernt schlendert ein Mann direkt aus einem James-Bond-Film auf mich zu. Also nicht direkt auf mich zu, aber er bewegt sich in meine Richtung. Und wie er sich bewegt. Galant, fester Schritt, eine Haltung, die einen sportlichen Körper unter dem dunklen Mantel erahnen lässt. Der Kerl ist ein absoluter Hingucker. Groß, dunkle, leicht zerzauste Haare, aber auf diese »Ich hab nicht mal versucht, gut auszusehen, und sehe trotzdem umwerfend aus«-Art. Er kommt näher. Diese Augen sind so tiefblau, dass sie selbst gegen einen trübgrauen winterlichen Himmel anstinken könnten. Ich kann nicht anders, ich starre ihn an. Und er übersieht mich. Klar, oder? Verdammt, warum gibt es solche Männer nicht bei uns in Hope Valley? Da gibt es entweder die Bauern mit Schlammspritzern an den Stiefeln oder Typen, die höchstens in ihren Traktoren cool aussehen. Oder eben seltene Touristen. Aber dieser hier? Das ist eine ganz andere Liga.
Ich nehme einen Schluck Kaffee, um meine Nervosität zu überspielen, und merke dabei nicht mal, dass ich fast meine Zunge verbrenne. Als ich das Husten unterdrücke und so tue, als wäre ich die coolste Person Londons, fällt mein Blick auf das, was er an seinem Arm hängen hat.
Lange erfolgreich ignoriert, muss ich mich doch den harten Tatsachen des Lebens stellen. Tja, wie sollte es auch anders sein … An seinem Arm hängt eine Frau, die aussieht, als wäre Schneewittchen der Vogue entstiegen, der Welt der Haute Couture und des Prêt-à-porters. Sie sagt irgendwas zu James Bond und streicht galant mit einer Hand eine glänzende, rabenschwarze Strähne aus dem Gesicht. Die lange Mähne fällt ihr unverschämt glatt und glänzend über den dicken, garantiert echten Fellkragen des champagnerfarbenen Mantels bis zu den Hüften hinunter. Ihr edles Outfit ist farblich aufeinander abgestimmt und hat sicher mehr gekostet als mein Werkzeugwagen. Ach was, mehr als meine ganze Werkstatt!
Natürlich. Männer wie dieser Bond schmücken sich mit der vollkommenen Frau an ihrer Seite. Was habe ich erwartet? Dass er plötzlich rüberkommt und sagt: »Hey, hast du mal einen Schraubenschlüssel? Mein Herz hat sich eben spontan gelockert und nur du kannst es wieder festzurren.«
Ich lache leise auf, blicke an mir runter, zucke mit den Schultern und füge mich in mein Schicksal. Was soll ich schon tun, ich bin, wie ich bin: das Mädel vom Dorf mit Ölschmiere auf den Wangen und ständig abgebrochenen Fingernägeln.
In diesem Moment huscht Schneewittchen mit eleganten Schritten und federndem Hüftschwung über die Straße und hinein ins … Ach, was für eine Überraschung – Selfridges. Klar. Wohin auch sonst? Das ist vermutlich ihr natürlicher Lebensraum.
Und Mister Bond? Mein Blick schweift zur Seite. Er hat die Hände tief in den Manteltaschen vergraben und sieht mit leicht genervtem Blick auf die andere Straßenseite. Ah, ich erkenne den Typ sofort: der Mann, der sich zum Shoppen mit seiner Freundin schleppen lässt und am liebsten drei Stunden draußen frieren würde, nur um nicht durch die Reihen von sündhaft teuren Handtaschen zu schlendern. Ich kann nicht anders – ich muss grinsen. Und ich kann ihn so gut verstehen.
Vielleicht holt er sich einen Kaffee? Das wäre irgendwie witzig. Ich stelle mir vor, wie wir nebeneinander hier draußen stehen und über das Wetter plaudern. Oder, wenn ich wirklich aufdrehe, darüber, wie man am besten einen Motor wieder zum Laufen bringt, wenn er plötzlich streikt. O ja, das wäre eine Begegnung für die Geschichtsbücher.
Träumen ist erlaubt, die Realität sieht so aus: Männer wie dieser Bond übersehen mich schlichtweg. Ich falle nicht in ihr Beuteschema. Zu gewöhnlich, zu arm. Bei uns im Dorf gibt es nicht nur solche Männer nicht, sondern nicht mal ansatzweise attraktive Kerle, die sich in meinem Alter befinden und noch zu haben sind. Solche Männer gibt’s bei uns im Dorf einfach nicht. Das ist nicht nur eine Untertreibung, das ist eine Tatsache. In Hope Valley herrscht eine absolute Dürre, was gut aussehende Single-Männer angeht. Die attraktiven sind vergeben. Wie zum Beispiel Adam, der lange allein und von allen abgeschottet in seinem Haus am Rande des Dorfes gelebt hat. Oder natürlich Jordan, der zusammen mit seiner Holly im Schloss Rosehill Castle wohnt, das Wahrzeichen von Hope Valley. Ansonsten verirrt sich keine Sahneschnitte zu uns. Ab und zu ein paar Touristen, aber die treten meistens nur paarweise auf. Alle anderen Männer kenne ich seit der Schule. Schon lange frage ich mich, ob ich für immer bei meinen Autos bleibe. In den letzten Jahren habe ich genau null Männer getroffen, die mich wirklich umgehauen hätten. Vielleicht bin ich zu wählerisch. Ja, vielleicht. Oder ich sollte raus aus Hope Valley und woanders neu anfangen.
Blödsinn! Ich liebe das Dorf. Außerdem sind meine Eltern dort und die brauchen mich irgendwann – und dann werde ich da sein. So ist das bei uns und das ist gut so.
Ich seufze und nehme noch einen Schluck von meinem Kaffee, während ich verstohlen zu Mister James Bond hinüberschiele. Er zieht sein Handy aus der Tasche und tippt etwas, dann blickt er gelangweilt auf den Eingang von Selfridges. Vielleicht hofft er darauf, dass seine Freundin schnell wieder rauskommt – oder er plant seine Flucht. Wer weiß.
Tja, solche Männer gibt’s bei uns einfach nicht. Aber was soll’s? Ich habe meine Werkstatt, meine Freiheit – und meinen Coffee to go.
Aber hey, wer weiß? Vielleicht fährt James ja zufällig irgendwann mal nach Hope Valley und ich darf ihm die Zündkerzen an seinem teuren Sportwagen wechseln.
HELD WIDER WILLEN
~ Chase ~
Es ist einer dieser geschäftigen Nachmittage in London. Die Oxford Street ist voll von Menschen, die sich durch die Läden drängen. Ich stehe draußen vor einem dieser riesigen Kaufhäuser, in denen Camilla gerade verschwunden ist, weil sie »nur mal kurz« etwas anprobieren will. Das kann dauern. Ich atme tief durch, lasse meinen Blick über die Menschenmenge schweifen und spüre, wie die warme Sonne mein Gesicht streift.
Ich liebe meine Freundin. Sie ist eine Frau mit Stil und Charme und einem exquisiten Geschmack für Garderobe und Interieur. Wir sind schon länger ein Paar, ich weiß nicht genau, wie lange. Ein paar Jahre oder so. Sie hat ihre Wohnung, ich meine. Von mir aus kann das erst einmal so bleiben, auch wenn Cam mir unmissverständlich zu verstehen gibt, dass es Zeit wird, den Ernstfall zu proben und zusammenzuziehen. Ihre Frage, warum ich noch nicht bereit für diesen Schritt bin, kann ich nicht mal mir selbst beantworten. Sie ist perfekt für mich und ich für sie. Wir sind laut unseren Freunden ein Dreamteam, ein Traumpaar und wie geschaffen, hübsche und erfolgreiche Kinder in die Welt zu setzen.
Der kleine Coffeeshop neben mir verströmt das angenehme Aroma von frisch gebrühtem Kaffee. Perfektes Timing, denke ich, während ich meine Hände in die Manteltaschen schiebe. Ein heißer Kaffee wäre jetzt genau das Richtige, um die Wartezeit zu überbrücken.
Leider ist der Coffeeshop maßlos überfüllt. Als ich mit dem mit Kaffee gefüllten Becher wieder hinaus in die Kälte trete, bemerke ich sie: die Frau, die etwa zehn Schritte von mir entfernt an der Wand lehnt und schnell den Blick abwendet, als sie mich sieht. Das kann natürlich Einbildung sein. Vielleicht hat sie nicht mich gesehen, sondern einfach nur ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet. Möglich, aber mir war, als wären sich unsere Blicke für einen Sekundenbruchteil begegnet.
Ich schlendere scheinbar zufällig in ihre Richtung, nippe am Kaffee, blicke mich vordergründig gelangweilt um. Dabei wundere ich mich, dass eine gewöhnliche Frau wie sie überhaupt mein Interesse weckt.
Sie ist hochgewachsen, schlank und ihre schulterlangen goldblonden Haare glänzen in der Sonne fast wie flüssiges Gold. Sie trägt eine ältere, grüne Daunenjacke, eine ausgewaschene Jeans und Lederstiefel. Ein Stil, den ich bei Frauen wenig anziehend finde – und doch hat sie etwas, das mich beeindruckt. Ich weiß nur noch nicht, was genau. Vielleicht sind es ihre Haare oder die Art, wie sie sich von der Hektik um sie herum nicht beeindrucken lässt. Ihre Mimik wirkt leicht genervt und doch meine ich, einen Funken Unsicherheit darin zu sehen. Sie wirkt distanziert und gleichzeitig weltoffen. Seltsame Mischung. Etwas an ihr lässt mich den Blick nicht abwenden, obwohl sie nicht mein bevorzugter Frauentyp ist. Sie besitzt eine raue, selbstbewusste Ausstrahlung, die ich normalerweise meide. Frauen wie Camilla treffen eher meinen Geschmack. Feminin und filigran.
Und doch macht mich die Frau an der Wand neugierig. Seltsam …
Plötzlich wendet sie den Kopf und unsere Blicke treffen sich. Nur kurz. Dunkelblaue Augen. Wie meine. Wow! Zu meiner Verblüffung setzt die Zeit einen Schlag aus und mein Puls erhöht sich. Was ist denn mit mir los!? Irgendetwas an dieser Frau zieht mich zu ihr, ohne dass ich beschreiben kann, woran es liegt.
Ich will es nicht, doch meine Füße setzen sich in Bewegung und stoppen erst, als ich vor ihr stehe. Wir sehen uns an. Blau in Blau. Und für ein, zwei Wimpernschläge bringe ich keinen Ton heraus. Ich, der ich sonst nie um Worte verlegen bin. Wo gibts denn so was?
»Entschuldigen Sie …«, beginne ich – dann bricht das Chaos aus.
BAM!
Der Knall ist ohrenbetäubend. So laut, dass ich für einen Moment das Gefühl habe, als würde mein Schädel von innen heraus zerbersten. Der Boden unter meinen Füßen zittert, als wäre die Straße selbst lebendig geworden. Glas splittert, die Luft ist heiß, Menschen schreien. Ihre Stimmen schälen sich durch die wabernde Hitze, übertönen den Lärm der berstenden Scheiben und zerschmetterten Fassaden. Überall laufen Menschen in Panik durcheinander, stoßen gegeneinander, stürzen zu Boden. Die friedliche, geschäftige Einkaufsstraße, die noch vor wenigen Sekunden voller Leben und Routine war, wird zu einem Schlachtfeld aus Schreien und fliehenden Körpern.
Um uns herum stürzen Menschen zu Boden, rennen auf die andere Straßenseite, versuchen verzweifelt, Schutz zu suchen, während Glasscherben wie tödliche Splitter aus den Fenstern der umliegenden Läden in die Menge fliegen. Autos, die auf der Straße fahren, bremsen abrupt, manche prallen ineinander, und ich höre das Kreischen von Metall auf Metall. Der Coffeeshop ist explodiert.
Das alles nehme ich in Bruchteilen von Sekunden wahr. Eine Gasexplosion? Egal. Weg hier!
Instinktiv packe ich die Frau an den Schultern.
»RUNTER!«, brülle ich und reiße sie zu Boden. Wir fallen, ein Schmerz schießt durch meinen Kopf.
In diesem Augenblick fangen ihre Haare Feuer. Die Flammen fressen sich blitzschnell durch ihre goldene Mähne. Sie schreit, versucht, mit ihren Händen den Flächenbrand auf ihrem Kopf zu löschen, will aufstehen. Ich drücke sie wieder nach unten, hier ist es sicherer, und versuche, die Flammen mit meinem Mantel zu ersticken. Mein Herz rast, mein Puls hämmert in meinen Ohren, mein Kopf fühlt sich an, als würde sich ein heißes Schwert in die Hirnrinden bohren. Dann verstummt sie plötzlich. Ihre Augen rollen nach hinten, und ich spüre, wie ihr Körper schlaff in meinen Armen wird.
»Scheiße!«, presse ich heraus, während um uns herum immer noch das Chaos tobt.
Puls? Hat sie einen Puls? Ich fühle an ihrer Halsschlagader. Zitternd zwinge ich mich zur Konzentration. Gelingt mir kaum, aber ich spüre einen Puls. Sie lebt. Gott sei Dank!
Plötzlich fährt mir ein Schlag durch Mark und Bein. Eine weitere Explosion. Ich werfe mich schützend über die Frau. Gleichzeitig trifft mich etwas Hartes am Kopf. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Die Geräusche um mich herum werden dumpfer, entfernt, als würde ich langsam unter Wasser sinken. Alles verlangsamt sich.
Die Hitze ist noch da, aber sie wird weniger wichtig. Mein Blick trübt sich, und das Bild der Frau unter mir verschwimmt. Ich versuche, meine Augen offen zu halten, kämpfe gegen das Unvermeidliche an, aber es ist, als würde mein Körper mich im Stich lassen.
Ich versuche, noch einmal tief Luft zu holen, aber meine Brust gehorcht mir nicht mehr.
Alles wird schwarz.
***
Ich blinzele gegen die einfallenden Sonnenstrahlen, die durch die halb geöffneten Jalousien fallen. Mein Kopf pocht, ein dumpfer Schmerz pulsiert in meinen Schläfen und meine Hände und Arme tun weh. Verwirrt versuche ich, meine Umgebung zu erfassen: weiße Wände, das leise Piepen von medizinischen Geräten, der sterile Geruch von Desinfektionsmittel. Ich bin in einem Krankenhaus?
Mein Mund ist trocken und ich schlucke schwer. Eine Mischung aus Verwirrung und Unbehagen steigt in mir auf. Ich hebe langsam eine Hand und berühre meinen Kopf. Unter meinen Fingern spüre ich raspelkurze Haare und einen dicken Verband am Hinterkopf. Ein Verband? Warum sind meine Haare so kurz? Was ist passiert? Wieso sind meine Hände und Unterarme verbunden?
Die Tür geht auf und ein Arzt in einem weißen Kittel sowie eine Krankenschwester treten ins Zimmer. Sie ist hübsch. Und sie sieht mich an, als wäre ich eine Erscheinung. Die Stimme des Arztes dringt durch den Nebel in meinem Kopf.
»Willkommen zurück. Ich bin Dr. Mitchell, Ihr behandelnder Arzt«, sagt er und deutet auf die brünette Frau neben sich. »Das ist Dr. Jones.«
Aha, doch keine Schwester. Okay …
Sie nickt mir zu. »Assistenzärztin«, haucht sie und wirkt, als müsse sie so etwas wie Begeisterung unterdrücken.
»Hallo«, erwidere ich verwirrt und fokussiere mich auf Dr. Mitchell. Er wirkt professionell, sein Gesichtsausdruck ist freundlich, aber konzentriert. Er hält ein Klemmbrett in der Hand und betrachtet mich aufmerksam.
»Wie fühlen Sie sich?«
»Wo … wo bin ich? Was ist passiert?«, will ich mit rauer Stimme wissen, anstatt auf seine Frage einzugehen. Mein Hals fühlt sich kratzig an, als hätte ich ewig nichts getrunken. »Mein Kopf tut weh.«
»Sie sind im St. Mary’s Hospital in London«, antwortet er. »Sie hatten einen Unfall und waren über einen Tag ohne Bewusstsein.« Er tritt näher und schaut mir in die Augen. »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«
Ich runzle die Stirn und versuche, tief in meinem Gedächtnis zu graben. Doch da ist nur Leere. Eine kalte Welle der Panik erfasst mich.
»Ich … ich weiß es nicht«, stammele ich. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen und meine Stimme klingt selbst in meinen Ohren fremd und panisch. »Ich erinnere mich nicht. Warum …? Was ist geschehen? Wieso weiß ich nicht, wie ich heiße?! Wieso sind meine Arme …?«
Dr. Jones tritt zu mir und legt eine Hand beruhigend auf meine Schulter. »Keine Sorge. Das ist in Ordnung. Sie leiden an einer retrograden Amnesie, einem vorübergehenden Verlust der Erinnerungen. Das ist nach solch einem Unfall nicht ungewöhnlich.«
Dr. Mitchell nickt zustimmend. »Können Sie bitte versuchen, Ihre Finger und Zehen zu bewegen?«
»Unfall? Welcher Unfall?«, presse ich hervor und versuche, mein Herzklopfen zu beruhigen. Zögernd bewege ich die Finger beider Hände, balle sie zu Fäusten und öffne sie wieder. Dann wackle ich mit den Zehen unter der Decke. »Ja, es funktioniert«, sage ich leise und bin etwas erleichtert. Aber warum ist es wichtig, dass ich das kann?
»Sehr gut«, sagt er und notiert etwas auf seinem Klemmbrett. »Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung und Verbrennungen ersten Grades an den Armen«, erklärt er, und seine Assistenzärztin unterbricht ihn eifrig, fast schon euphorisch.
»Die Kopfschmerzen kommen von der Wunde eines Glassplitters, der aber schon entfernt wurde. Sie hatten wirklich Glück, dass nicht mehr passiert ist.«
Mitchell wirft ihr einen kurzen Blick zu und übernimmt wieder. »Wir werden Ihnen ein Analgetikum verabreichen, um die Schmerzen zu lindern.« Er lächelt ermutigend. »Möchten Sie etwas Wasser trinken?«
Ich nicke dankbar. »Ja bitte.« Meine Stimme klingt immer noch schwach.
»Hier, bitte schön. Langsam trinken, nicht zu hastig.« Dr. Jones greift nach einem Krug auf dem Nachttisch und gießt mir ein Glas Wasser ein. Ich nehme es mit zitternden Händen entgegen und trinke in kleinen Schlucken. Das kühle Wasser fühlt sich angenehm in meinem trockenen Hals an.
Nachdem ich das Glas zurückgestellt habe, schaue ich den Arzt an. »Was ist denn genau passiert? Wieso hatte ich einen Glassplitter im Kopf und Verbrennungen am Arm. Ein Autounfall?«
»Es gab eine Gasexplosion auf der Oxford Street. Sie haben dabei eine junge Frau gerettet. Können Sie sich daran erinnern?«
»Explosion …«, flüstere ich und versuche, mich zu erinnern. Doch da ist nichts. Gar nichts! Ich schüttle langsam den Kopf, spüre dabei ein leichtes Schwindelgefühl. »Nein … ich erinnere mich an gar nichts. Nicht einmal an meinen eigenen Namen. Ich habe jemanden gerettet?« Meine Hände ballen sich zu Fäusten, und ich fühle, wie Verzweiflung in mir aufsteigt.
»Ja. Allerdings.« Die Assistenzärztin strahlt. Finde ich irgendwie unangemessen. »Sie sind ein Held! Die ganze Stadt …«
»Danke, Dr. Jones, dafür ist später noch Zeit«, fällt Mitchell ihr trocken ins Wort und wendet sich wieder an mich. »Sie können die junge Frau besuchen, wenn Sie wollen, aber nicht heute. Das wäre zu viel auf einmal. So, und jetzt zu Ihrem Namen.« Dr. Mitchell wirft einen kurzen Blick auf die Mappe in seiner Hand. »Wir haben Ihre persönlichen Gegenstände untersucht. In Ihrem Mantel fanden wir Papiere auf den Namen Chase Brenton. Sagt Ihnen das etwas?«
»Der Chase Brenton«, höre ich die Ärztin leise sagen, als wäre sie zutiefst beeindruckt. Ich verstehe überhaupt nichts.
»Chase Brenton«, wiederhole ich leise. Ich lasse den Namen auf mich wirken, wiederhole ihn mehrfach in Gedanken und hoffe, dass er etwas in mir auslöst. Aber da ist nur eine beklemmende Leere. »Es klingt irgendwie, als hätte ich diesen Namen schon mal gehört, aber … ich kann keine Verbindung herstellen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mister Brenton, das ist völlig normal bei einer Amnesie«, sagt er beruhigend. »Mit der Zeit können Ihre Erinnerungen zurückkehren. Dabei ist es wichtig, dass Sie sich nicht unter Druck setzen. Haben Sie Vertrauen, die Erinnerung wird wiederkommen, es kann nur ein bisschen dauern.« Er legt seine Hand kurz auf meinen Unterarm, eine Geste der Anteilnahme.
»Wie lange?« Ich setze mich etwas zu schnell auf. Schwindelig. Mit einem widerwilligen Brummen senke ich mich wieder ins Kissen.
»Das kann niemand so genau sagen. Ein paar Tage, ein paar Wochen. Bitte keine schnellen Bewegungen.«
»Hab ich gemerkt, danke.« Ich atme tief durch und versuche, meine aufkommende Panik zu unterdrücken. »Habe ich Familie oder Freunde, die informiert wurden?«
»In Ihren persönlichen Unterlagen fanden wir keine Hinweise auf Angehörige«, antwortet er. »Aber es gibt eine Frau, die behauptet, Sie zu kennen.«
»Ihre Freundin«, ergänzt Jones und über ihr Gesicht huscht ein Schatten.
In diesem Moment öffnet sich die Tür, und eine kleine, schwarzhaarige Frau tritt ein. Sie ist atemberaubend schön, mit langen Haaren, die glatt und glänzend über ihre Schultern fällt. Sie trägt einen eleganten champagnerfarbenen Mantel, der ihre schlanke Figur betont, und hochhackige Schuhe, die leise auf dem Boden klackern, als sie zu mir ans Bett tritt. Ihr Duft nach teurem Parfüm füllt den Raum.
»Ah, da ist sie ja«, sagt Dr. Mitchell. »Guten Tag, Miss Hawthorne.«
Sie lächelt strahlend und reicht ihm die Hand. »Hallo, Doktor. Danke, dass Sie mich zu meinem Verlobten lassen.«
Verlobter? Ich kenne die Frau nicht.
Automatisch sehe ich auf meine Finger. Kein Ring.
Der Arzt nickt höflich. »Sie sollten wissen, Ihr Verlobter leidet an Amnesie, was nach solch einem Trauma nicht ungewöhnlich ist.«
Meine Verlobte wendet sich an mich und nimmt meine Hand. Ich verziehe das Gesicht, weil es schmerzt, und sie lässt los. »Chase, Liebling, erinnerst du dich an mich? Ich bin es, Camilla«, setzt sie mich mit sanfter Stimme in Kenntnis und ihre Augen suchen meine.
Ich blicke sie verwirrt an. »Es tut mir leid … ich kann mich nicht erinnern.« Ein Gefühl von Schuld überkommt mich, obwohl ich nichts dafürkann.
Sie lächelt ermutigend. »Das ist okay. Wir werden das gemeinsam durchstehen, Darling«, sagt sie und wendet sich an Dr. Jones. »Gibt es etwas, das ich tun kann, um zu helfen?«
»Vielleicht könnten Sie ihm einige vertraute Gegenstände bringen«, schlägt die Ärztin vor. »Fotos oder persönliche Dinge. Das kann helfen, Erinnerungen anzuregen.«
»Natürlich«, sagt Camilla eifrig. »Ich werde ein paar Sachen von zu Hause holen.« Sie zögert einen Moment. »Kann ich sonst noch etwas für ihn tun?«
»Er braucht vor allem Ruhe«, antwortet Dr. Mitchell. »Aber Ihre Unterstützung kann sehr hilfreich sein. Wir lassen Sie beide jetzt alleine.«
Nachdem Mitchell und seine Assistenzärztin sich verabschiedet haben, wobei Jones mir einen sehr langen, tiefen Blick zugeworfen und meine Hand etwas länger als notwendig festgehalten hat, setzt sich Camilla auf den Stuhl neben meinem Bett.
Sie legt ihre Designer-Handtasche auf ihren Schoß und öffnet sie. »Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagt sie und holt ein glänzendes Magazin hervor. Auf dem Cover ist ein beeindruckendes Schwarz-Weiß-Foto einer Stadtlandschaft zu sehen.
Zwangsläufig sehe ich auf ihre Finger. Genau wie bei mir befindet sich dort kein Ring. Wieso behauptet sie dann, wir wären verlobt?
»Eine Frage, Camilla.«
»Cam. Sag bitte Cam. So nennst du mich normalerweise.«
»Ah, okay. Eine Frage, Cam. Wenn wir verlobt sind, warum tragen wir dann keine Ringe?«
»Darling …« Sie legt eine Hand auf meine Wange und sieht mich fast schon mitleidig an. Instinktiv zucke ich ein wenig zur Seite, was sie mit einem Seufzen quittiert. »Du hast mich doch erst gestern gefragt. Wir wollten uns gemeinsam die Ringe aussuchen.«
»Aha …« Ein Mann schenkt einer Frau einen Ring zur Verlobung, man sucht sie sich nicht gemeinsam aus. Ich beschließe, nichts weiter darauf zu sagen. Die Erinnerung wird wiederkommen, ganz sicher. Außerdem fällt mir aktuell das Denken schwer. Meine Konzentration lässt nach und mein Kopf brummt.
Ich schwenke auf das vorherige Thema und deute auf die Zeitschrift. »Was ist das für ein Magazin und warum bringst du es mit?«
»Das ist die neueste Ausgabe von ›Visual Arts Monthly‹«, erklärt sie stolz. »Dein Foto ziert das Cover.«
Überrascht schaue ich sie an. »Mein Foto?«
»Ja! Du bist ein gefeierter Fotograf, Chase. Deine Werke sind weltweit bekannt.« Sie lächelt strahlend. »Du hast zahlreiche Auszeichnungen gewonnen und deine Ausstellungen sind immer ausverkauft.«
Ein seltsames Gefühl von Stolz und Ungläubigkeit durchflutet mich. »Ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Du hast ein unglaubliches Talent, die Welt einzufangen«, fährt sie fort. »Deine Fotos sind nicht nur Bilder, sie erzählen Geschichten.« Sie reicht mir das Magazin. »Blättere mal durch. Vielleicht hilft es dir.«
Ich nehme die Zeitschrift vorsichtig entgegen. Auf den Seiten sehe ich atemberaubende Fotografien von Landschaften, Menschen und urbanen Szenen. Unter jedem Bild steht mein Name: Chase Brenton. »Das habe ich alles fotografiert?«
»Ja«, bestätigt sie und legt eine Hand auf meinen Unterarm. »Du hast mit deiner Kunst ein Vermögen gemacht. Deine Fotos werden für hohe Summen verkauft.«
»Eine Frage, Camilla. Wir sind verlobt? Leben wir zusammen? Wenn ja, wo?«
Für einen kurzen Moment huscht ein Schatten über ihre Mimik und ihre Mundwinkel fallen nach unten. Aber nur kurz, dann lächelt sie wieder.
»Wir wohnen noch nicht zusammen, Chase. Du lebst in einem wunderschönen Loft in der Innenstadt, voll mit deinen Werken.« Sie setzt ein Strahlen auf, das nicht echt wirkt. »Wir haben so viele Pläne.«
Ich lege das Magazin zur Seite und suche in ihrem Gesicht nach etwas, das mir bekannt vorkommt. Nichts. »Es fühlt sich surreal an. Als ob das alles jemand anderem passiert wäre.«
Sie steht auf und geht zum Fenster, verschränkt die Arme und redet, ohne mich anzusehen. »Ich verstehe, dass das überwältigend ist. Aber vielleicht hilft es dir, wenn du wieder fotografierst.« Sie dreht sich zu mir um. »Ja, genau, ich könnte dir deine Kamera bringen.«
Ich nicke langsam. »Das könnte vielleicht helfen.«
»Perfekt!«, ruft sie begeistert aus. »Ich hole sie sofort.« Sie greift nach ihrer Handtasche und macht sich auf den Weg zur Tür. Bevor sie geht, wendet sie sich noch einmal zu mir um. »Vertrau mir, Chase. Wir schaffen das. Gemeinsam.«
Nachdem sie gegangen ist, lasse ich mich erschöpft zurück in die Kissen sinken. Die Informationen prasseln auf mich ein, und mein Kopf schwirrt. Ein berühmter Fotograf? Reich? Es klingt wie das Leben eines anderen.
Ich muss schlafen. Einfach nur schlafen.
CROISSANTS UND COURAGE
~ Lily ~
Zwei Tage schon in diesem Krankenhaus! Meine Eltern sind informiert, wobei mein Dad nur trocken anmerkte, dass ich ein Schweineglück hatte, und meine Mutter fast einen Kollaps bekommen hat. Sie hat geweint vor Erleichterung und Glück, dass mir nichts Schlimmeres passiert ist. Ich bin kaum dazu gekommen, ihr zu sagen, dass es mir den Umständen entsprechend gut geht. Eine kleine Verbrennung an der Wange, ein Bügeleisenabdruck wäre schlimmer, und keine Haare mehr.
Nach dem Gespräch streiche ich mit der flachen Hand über meine raspelkurzen Haare. Meine schönen Haare! Weg. Fort. Kurz. Jeder Blick in den Spiegel treibt mir die Tränen in die Augen. Sie waren so ziemlich das einzige Weibliche an mir. Aber gut, sie wachsen wieder. Langsam zwar, aber sie tun es. Ungefähr zwölf Zentimeter im Jahr. Bis sie mir wieder bis knapp über die Schultern fallen dürften – ich rechne kurz nach und blicke dabei nach links oben – ungefähr drei Jahre vergehen.
Seufzend knabbere ich am Daumennagel herum, bemerke es und lasse es sein. Positiv denken, Lily, vielleicht ist der Pixie-Cut ja gerade modern? Zudem ist eine Kurzhaarfrisur praktisch. Ich muss mir die Haare bei der Arbeit nicht mehr hochbinden, sie spart Zeit beim Haarewaschen und ich muss nicht mehr täglich die Haare aus der Bürste ziehen.
Ob eine Narbe an meiner Wange bleibt? Ich berühre vorsichtig das Pflaster, das die leichte Verbrennung abdeckt. Und wenn, was soll’s. Nicht gerade mein bester Look, aber Narben verleihen Charakter, oder? Passt zu mir und dem Rest meiner Welt. Es kommt alles, wie es kommen soll. Ich kann mich drüber aufregen, kanns aber auch lassen.
Haha. Der Schöne und das Biest. Sollte neu verfilmt werden mit mir in der Hauptrolle.
Die Tür öffnet sich, und Claire tritt ein, strahlend wie immer. In der Hand hält sie eine Tüte, die nach Bäckerei duftet. An ihrem Arm eine prall gefüllte Tasche.
»Guten Morgen, Schlafmütze!«, ruft sie, stellt die Tasche auf dem Tisch ab und öffnet die Tüte. Und schwenkt die Tüte. Der Duft von frischem Gebäck und Schokolade öffnet schlagartig meine Geschmacksknospen.
Ich setze mich langsam auf, mein Kopf fühlt sich leichter an als gestern. »Brichst du aus Mitleid deine Diät und bringst mir echtes Essen mit viel Zucker? So richtig ungesund und lecker?«, frage ich und hebe eine Augenbraue.
Sie lacht und setzt sich neben mein Bett. »Ich dachte, du hättest genug von Krankenhauspudding und faden Suppen. Außerdem habe ich dir deine andere Jacke und einen dicken Pulli mitgebracht. Wir könnten eine Runde spazieren gehen. Die Luft hier drin macht einen ja krank.« Sie reicht mir einen Donut mit Schokolade und Nüssen. Oh, wie köstlich.
»Da sagst du was«, stimme ich zu und beiße herzhaft in den cremigen Donut und schließe die Augen. »Das ist himmlisch. Du bist ein Engel.«
»Nur das Beste für meine beste Freundin.« Sie mustert mich aufmerksam. »Wie fühlst du dich heute?«
Ich zucke mit den Schultern. »Besser. Die Kopfschmerzen sind fast weg und mir ist nicht mehr schwindelig.« Ich streiche über meinen Kopf. »An meine neue Frisur gewöhne ich mich auch langsam. Ähm, nein, das ist gelogen, ich hasse meine Haare.«
»Die wachsen wieder.« Claire grinst. »Außerdem siehst du aus wie ein rebellischer Rockstar. Vielleicht solltest du eine Band gründen.«
Ich lache. »Aber nicht als Sängerin. Dad verdreht immer die Augen, wenn ich anfange zu singen. Tja, ich kann halt nicht alles können.« Beim letzten Satz verziehe ich gespielt das Gesicht. Immer das Beste aus der Situation machen, Lily. Galgenhumor ist deine Stärke.
»Es hätte wirklich schlimmer kommen können«, nuschelt sie um einen Bissen vom Croissant herum.
Mein Blick wird ernst. »Ich weiß. Ich hatte Glück im Unglück. Die Explosion war so plötzlich, Claire. Ein Moment der Normalität und im nächsten … Chaos. Denke, ich brauche eine Weile, bis ich nicht mehr daran denken muss. Das wünscht man seinem größten Feind nicht. Aber hey, zumindest warst du im Selfridges und nicht bei mir. Nicht auszudenken, wenn wir beide so angekokelt rumlaufen müssten.«
»Und dank deines mysteriösen Retters ist es glimpflich ausgegangen.«
Ich runzle die Stirn. »Ich würde ihn zu gern sehen. Er hatte so schöne blaue Augen. An seine Stimme kann ich mich gar nicht erinnern. Er hatte zwar angefangen, etwas zu sagen, aber …« Ich deute zu den Stoppeln auf meinem Kopf und verdrehe die Augen. »… er hatte ja keine Gelegenheit, fertig zu reden. Der Arzt sagt, er liegt ebenfalls hier im Krankenhaus. Ich sollte ihn besuchen. Gehst du mit?«
»Nö.« Sie grinst. »Das machst du mal schön alleine, ohne dass dich die liebe Claire an die Hand nimmt. Unabhängig davon solltest du dich auf jeden Fall bei Blauauge bedanken. Wer weiß, was sich daraus ergibt?«
Ich beiße mir auf die Lippe und erinnere mich, dass in London eine Frau an seiner Seite gewesen ist. Seine Freundin? Seine Ehefrau? Schwester? »Was, wenn er nicht gestört werden will?«
Claire schüttelt den Kopf. »Unwahrscheinlich. Was sollte er dagegen haben? Okay, außer, er liegt im Koma, aber das hätte der Arzt erwähnt, oder?«
Bilder der Vergangenheit
~ Chase ~
Gegen Nachmittag werde ich wach. Das Krankenhausbett ist unbequem und ständig kommt eine Schwester rein, um nach mir zu sehen. Das nervt.
Endlich kehrt Camilla zurück, eine elegante Kameratasche in der Hand. Ich kenne die Frau immer noch nicht und es ist ein seltsames Gefühl, sie zu sehen, schließlich bin ich mit ihr verlobt. Sollte da in mir nicht wenigstens ein Gefühl sein, sie in den Arm nehmen zu wollen?
»Hey«, begrüße ich sie und überlege, ob ich sagen soll, dass sie gut aussieht. Sie ist wirklich hübsch, aber das war es auch schon für mich. Camilla wirkt wie einem Modemagazin entsprungen. Klassisch elegant, äußerst gepflegt, perfekt, ohne Emotion im Gesicht, das Lächeln irgendwie aufgesetzt. Als würde sie einen Catwalk beschreiten. Vielleicht täusche ich mich. Ich weiß nicht einmal, ob ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen kann, habe ich doch keine Ahnung, wer ich bin. Fotograf, ja. Und verlobt. Ich hoffe inständig, meine Erinnerungen schälen sich bald aus der Dunkelheit. Möglicherweise kommen damit auch Gefühle für meine Verlobte auf.
»Schau mal, ich habe sie gefunden«, sagt sie freudig und setzt sich neben mich. Sie öffnet die Tasche und holt eine professionelle Spiegelreflexkamera hervor.
Ich nehme das kostbare Teil vorsichtig in die Hände. Komisch, woher weiß ich, dass diese Kamera und das Objektiv sündhaft teuer sind? Das Gewicht, die Haptik – es fühlt sich vertraut an. Meine Finger finden automatisch die richtigen Knöpfe und Einstellungen. Ein kleiner Funke von Vertrautheit lodert in mir auf.
»Siehst du?«, sagt Camilla und zum ersten Mal höre ich so etwas wie ehrliche Erleichterung aus ihrer Stimme heraus. »Es liegt dir im Blut.«
Ich hebe die Kamera und schaue durch den Sucher. Die Welt erscheint in einem neuen Licht, fokussiert und klar. Ohne nachzudenken, richte ich sie auf Camilla und drücke den Auslöser. Das Klickgeräusch löst ein seltsames Gefühl der Zufriedenheit in mir aus.
Sie lacht leise. »Immerhin weißt du noch, wie man Fotos macht.«
Ich betrachte das Bild auf dem Display. Ihr Gesicht, perfekt eingefangen, doch in ihren Augen sehe ich etwas Undefinierbares – eine Mischung aus Erwartung und Berechnung.
»Vielleicht sollten wir nach draußen gehen«, schlägt sie vor. »Frische Luft könnte dir guttun, und du könntest mehr fotografieren.«
»Der Arzt hat gesagt, ich soll mich noch schonen«, erwidere ich zögerlich, obwohl mich die kalte Winterluft reizt. Der sterile Krankenhausduft sticht mir in der Nase. Hier riecht alles nach Desinfektionsmittel, selbst die Bettwäsche.
»Ach, ein kleiner Spaziergang wird nicht schaden«, drängt sie. »Außerdem könnten wir dabei über zukünftige Projekte sprechen. Es gibt viele Galerien, die an neuen Werken von dir interessiert sind.«
»Camilla«, unterbreche ich sie missmutig und lege die Kamera beiseite. »Ich fühle mich überfordert. Das alles, die Informationen, die Erwartungen, ist mir zu viel auf einmal.«
Sie seufzt und ihre Miene verfinstert sich leicht. »Ich versuche doch nur, dir zu helfen.«
»Das weiß ich durchaus zu schätzen«, sage ich ehrlich. »Mir ist jedoch mehr danach, endlich die Erinnerung wiederzubekommen.«
Sie steht auf, macht einen leichten Schmollmund – wie ein Kind, das seinen Lutscher nicht bekommt – und verschränkt die Arme vor der Brust. Gar nicht ladylike. »Du kannst nicht ewig hier sitzen und warten, bis sich etwas ändert. Du musst aktiv werden.«
»Natürlich, aber nicht gleich heute am ersten Tag. Der erste Tag für mich, ich bin ja erst seit wenigen Stunden wieder bei Bewusstsein. Ich weiß nicht, wer du bist, Camilla. Und noch weniger, wer ich bin. Das ist für mich ein unhaltbarer Zustand.«
»Wer du bist, sage ich dir«, wiederholt sie mit einem Anflug von Ungeduld. »Du bist Chase Brenton, ein weltbekannter Fotograf. Du hast alles, was ein Mann sich wünschen kann. Talent, Erfolg, Reichtum.« Sie schmunzelt, löst ihre Arme, setzt sich zu mir aufs Bett und haucht mir einen Kuss auf die Wange. »Und eine attraktive Frau …«
»Und doch fühle ich mich leer«, antworte ich nachdenklich. »Sag mal, habe ich Familie? Es wundert mich, dass außer dir niemand ausfindig gemacht werden konnte.«
»Genüge ich dir nicht?«, zieht sie augenzwinkernd meine, wie ich finde, äußerst wichtige Frage ins Possenhafte. Ich sage darauf nichts. Umgehend korrigiert sie ihre unpassende Bemerkung. »Leider hast du keinerlei Angehörige, Darling. Das tut mir so leid für dich. Du bist ein Einzelkind und deine Eltern sind vor etwa sechs Jahren bei einem Schiffsunglück auf dem Atlantik ums Leben gekommen. Aber da kannten wir uns noch nicht.«
»Ah, okay«, antworte ich geistesabwesend. Ich erinnere mich nicht mal an meine Eltern. Das versetzt mir einen Stich ins Herz. Tief atme ich durch und versuche, die Verzweiflung nicht zu sehr Oberhand gewinnen zu lassen. Von meiner Familie gibt es mit Sicherheit Fotos und Andenken an sie in meiner Wohnung. Es wird Zeit, dass ich entlassen werde. »Camilla, seit wann sind wir zusammen?«
»Seit knapp zwei Jahren, Darling«, flötet sie und drückt mir einen Kuss auf die Wange.
Wieso ist mir ihre Nähe unangenehm?
Camilla scheint meinen Widerstand zu spüren und steht auf. Ihr Gesicht sieht plötzlich aus wie gemeißelt. Komplettes Pokerface ohne die geringste Spur von Emotion.
»Vielleicht sollte ich gehen und dich in Ruhe lassen.« Ihre Stimme ist kühl geworden.
»Ja, das ist wahrscheinlich im Moment das Beste. Sorry. Danke für die Kamera«, stimme ich zu, ohne sie anzusehen, jedoch mit schlechtem Gewissen ihr gegenüber.
Sie steht einen Moment lang still, als würde sie etwas sagen wollen, entscheidet sich dann aber dagegen. »In Ordnung. Melde dich, wenn du bereit bist, weiterzumachen.« Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und verlässt den Raum.
Weiterzumachen? Mit was?
Irritiert über das Gefühlschaos in mir atme ich tief durch und spüre eine Mischung aus Schuld und Erleichterung. Die Kamera liegt schwer in meinen Händen, ein Symbol für ein Leben, an das ich mich nicht erinnern kann.
Morgen werde ich die junge Frau besuchen.
Junge Frau …
Vor meinem inneren Auge flackert etwas auf. Grüne Daunenjacke, blonde Haare. Fast euphorisch nehme ich wahr, dass die Erinnerung zurückkehrt. Nur schemenhaft, aber es tut sich was.
Holy Shit! Das ist gut. Das ist sogar verdammt gut!
***
Nach einer unruhigen Nacht klopft es am nächsten Morgen leise an der Tür. Nach meinem Herein tritt Dr. Mitchell ins Zimmer. »Guten Morgen, Chase. Wie fühlen Sie sich heute?«
»Immer noch verwirrt«, gebe ich zu und lege die Kamera auf den Nachttisch. »Camilla hat mir erzählt, dass ich offenbar ein recht bekannter Fotograf bin.«
»Ja, das stimmt«, bestätigt er und setzt sich auf den Stuhl neben meinem Bett. »Ihre Arbeiten sind sehr angesehen.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern«, sage ich und reibe mir die Schläfen. »Es ist, als ob ich das Leben eines anderen betrachten würde.«
»Das ist bei Amnesie nicht ungewöhnlich«, wiederholt er geduldig seine Worte von gestern. »Aber wir können versuchen, Ihnen zu helfen, Ihre Erinnerungen zurückzugewinnen. Möchten Sie darüber sprechen?«
Ich nicke. »Ich fühle mich von … meiner Verlobten etwas unter Druck gesetzt.«
»Lassen Sie es langsam angehen. Es ist wichtig, dass Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse hören«, sagt Dr. Mitchell. »Wenn Sie das Gefühl haben, dass der Kontakt mit ihr Ihnen nicht guttut, ist es in Ordnung, Grenzen zu setzen.«
»Ich habe ihr gesagt, dass ich Zeit brauche«, erzähle ich. »Sie war nicht sehr erfreut darüber.«
»Das kann ich verstehen, aber Ihre Genesung steht an erster Stelle.« Er deutet auf die Kamera. »Ist das Ihre?«
»Ja, ist sie. Leider bringt sie keine Erinnerungen zurück.«
»Manchmal brauchen solche Dinge Zeit«, sagt er ermutigend. »Vielleicht könnten Sie Ihre eigenen Werke ansehen. Das könnte helfen.«
»Camilla hat mir ein Magazin gezeigt, in dem meine Fotos abgedruckt sind«, sage ich und zucke mit den Schultern. »Mir wäre alles recht, wenns hilft. Selbst wenn ich im Adamskostüm über die Straße rennen müsste.«
»Na, wenigstens haben Sie Ihren Humor nicht verloren.«
»Hatte ich den?«
Als er gegangen ist, betrachte ich in der Zeitschrift ein Schwarz-Weiß-Foto einer verlassenen Straße im Regen. Die Details, die Kontraste, die Stimmung, alles daran ist faszinierend. Plötzlich durchzuckt mich ein kurzer Blitz einer Erinnerung: Ich stehe mitten auf der Straße, der Regen prasselt auf mich herab, die Kamera in meinen Händen. Ich spüre die Kälte, höre das Geräusch der Regentropfen.
Ich fühle eine Mischung aus Erleichterung und Aufregung. Vielleicht gibt es Hoffnung.
Ich bin Chase Brenton, und auch wenn meine Vergangenheit verschwommen ist, liegt die Zukunft klar vor mir. Die Kamera in meiner Hand ist nicht nur ein Werkzeug, sondern eine Verlängerung meiner selbst, bereit, die Geschichten einzufangen, die das Leben für mich bereithält.
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