Leseprobe Liebesroman: FREI GELIEBT FÜR DICH

von Bestseller Autorin Jo Berger

Liebesroman Everybody’s Darling war gestern

Als Mea Kaltenstein eifrig dabei ist, ihr Leben neu zu ordnen, hat sie definitiv keine romantischen Fantasien im Sinn. Höchstens Schokoladenkuchen mit Sahnehäubchen. Und sie wird einen Teufel tun, die doofen Blumen vom schrägen Schneckenbeschwörer nebenan ständig mitzugießen

Frei geliebt


Selbst ist die Frau

Als es an der Tür klingelt, liege ich gerade unter der Spüle und versuche, diese dämliche Mutter an der Wasserflexleitung festzuziehen.
Einfacher gesagt als getan in dieser unwürdigen Position. Schon als ich das tropfende Mistding geöffnet und die defekte Dichtung ausgetauscht habe, hats mir höllisch im Nacken gezogen. Aber ich bin gut im Schmerzen-Aushalten. Sagt auch mein Zahnarzt.
»Für was hat man eigentlich einen Kerl im Haus?«, meckere ich leise ins Geschirrspülsalz.
Stopp! Das war ungerecht! Chris ist mehr der verkopfte Typ, weniger der handwerklich begabte. In der Beziehung hat er zwei linke Hände.
Jetzt, die letzte Umdrehung! Ich klemme die Zunge zwischen die Lippen, schmecke den salzigen Tropfen, der es geschafft hat, von meiner Stirn Richtung Mund zu laufen – und rutsche mit dem Schraubenschlüssel ab. Dabei platzt mir der Knopf von der Hose, die irgendwann mal lockerer gesessen hat.
Und überhaupt tut mir nicht nur der Nacken weh, auch die untere Rippe, die sich standhaft weigert, eine Symbiose mit der Schrankkante einzugehen, und schmerzhaft protestiert. Nun ja, gewöhnlicherweise liegt man auch eher selten mit einer Körperhälfte in einem Küchenunterschrank. Im Hochsommer, bei Temperaturen, die eine Abkühlung im See verlangen.
Es klingelt erneut, ich schiebe mich umständlich ein paar Zentimeter aus dem Schrank heraus, und mein Wunsch nach Erfrischung wird postwendend erfüllt – der Essigreiniger kippt um. Dabei habe ich die Flasche extra rausgestellt, als ich mir eine Schneise für den Oberkörper freigeräumt habe. Leider steht sie nicht weit genug entfernt.
Andere Frauen würden wahrscheinlich alle Putzmittel, Schwämme, Geschirrspültabs und sonstige Utensilien, versteckt in den dunklen Tiefen unter dem Waschbecken hinten links, fein säuberlich ausräumen, um nach erfolgreicher Reparatur den Schrank auszuwischen. Das bietet sich durchaus an, wenn man schon mal da unten ist. Für andere, nicht für mich. Das Vorstoßen in ewig nicht mehr besuchte Waschbeckenunterschrank-Galaxien muss warten. Es gibt Wichtigeres. Kaputte Dichtungen wechseln zum Beispiel.
Na super, Knopf ab und Essig im Bauchnabel, denke ich in dem Moment, als es zum dritten Mal klingelt. Da hat aber jemand Geduld. Oder es ist wichtig.
»Komme!«, brülle ich.
Die Wahrheit ist: Ich schaffe es höchstwahrscheinlich nie wieder aus diesem verdammten Schrank heraus. Schon gar nicht, um wem auch immer rechtzeitig die Tür zu öffnen. Aus dem Grund steckt mir das Handy im BH. Man weiß ja nie, ob jemand Wichtiges anruft. Christian beispielsweise. Vielleicht wird sein Geschäftsessen abgesagt und dann … Nun ja, er müsste sich in dem Fall eben mit dem aufgewärmten Gemüseauflaufrest von gestern begnügen.
»Hermes«, ruft es zurück. »Paket liegt vor der Tür.«
»Äh … Danke«, antworte ich mit einem Blick über mein Bäuchlein hinweg auf die suppende Essigflasche. Ich sollte definitiv längere Shirts anziehen. Größere Brüste wären an der Stelle hilfreich, dann würde ich in der Rückenlage meinen Bauch nicht sehen. Andererseits möchte ich auch nicht unbedingt mit Nadines Oberweite tauschen. Sie klagt oft über einschneidende BH-Träger und Rückenschmerzen. Dann lieber zwei Erbsen auf ein Brett genagelt, wie Chris meine Brüste scherzhaft bezeichnet.
»So wenig isses auch wieder nicht«, murmele ich, stelle mit der Grazie eines biegsamen Elefanten die Flasche auf und zücke erneut den Schraubenschlüssel.
Nur noch eine Umdrehung!
»So, du Mistschraube, jetzt zieh ich dich so fest, dass du nie wieder aufgehst!«
Mein Nacken krampft. Im BH vibriert es. Irgendjemand ruft an.
Christian? Muss ich doch nicht allein essen? Wir könnten in ein Restaurant gehen. Ich habe wenig Lust auf Aufgewärmtes.
Umständlich fummele ich das Handy heraus und nehme das Gespräch entgegen.
»Hallo?«
»Ach du liebe Güte! Du klingst, als würde die Waschküche unter Wasser stehen. Ist was passiert?«
»Oh … Hi, Mama. Nein, alles in Ordnung. Warte mal …« Ich will meinen verkrampften Körper aus dem Schrank schieben, überlege es mir jedoch anders. Später muss ich da wieder rein, und ich weiß nicht, ob ich mich noch mal dazu aufraffen kann, denn meine Rippe ist mittlerweile gefühllos. Ein äußerst angenehmer Zustand, den ich nicht aufs Spiel setzen will.
»Mea?«
»Bin noch da. Was gibts? Sei so lieb und fass dich kurz, ja? Ich liege gerade unter der Spüle, eine Dichtung in die Wasserleitung einlegen.«
»Wie bitte!? Für solche Arbeiten sind schließlich Handwerker da. Oder Ehemänner. Wieso machst du so etwas? Also wirklich, Kind. In der Zeit hättest du einen Kuchen backen können.«
»Ja, klar, was auch sonst …«
»Aber weswegen ich eigentlich anrufe, Liebes.« Sie holt Luft und stößt sie mit einem langen Seufzer wieder aus. »Sitzt du gut?«
Ich verdrehe die Augen. »Nicht wirklich …«
»Pass auf! Du glaubst es nicht! Du erinnerst dich an meine Nachbarin, die Frau Otterstätter.«
»Ja, dunkel. Warum?«
»Die hat ihren Mann verlassen! Eine Frau in diesem Alter trennt sich doch nicht mehr!«
»Ist ja interessant … Mama, ich … Autsch, verdammt!« Ein Muskel an der Taille beschließt, spontan zu krampfen. Ich will mich aufsetzen, stoße mit dem Kopf an die Unterkante des Waschbeckens und meine Rippe jault gequält auf. Ich heule kurz mit.
»Siehst du, genau das habe ich auch gesagt! Also so ähnlich. Ist das noch zu fassen? Ich meine, das geht doch nicht! Hast du dir wehgetan?«
Ich sinke zurück in die Ausgangsposition und versuche, den Krampf wegzuatmen. »Nicht wirklich.«
»Nicht? Okay, hatte sich so angehört. Mea, Liebes, weswegen ich eigentlich anrufe: Bleibt es bei Sonntag? Ihr kommt doch zum Essen? Kannst auch den Hund mitbringen.«
»Er lebt schon eine Weile nicht mehr, Mama.« Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen. Sonntag … Mist. Habe ich total verschwitzt.
Am anderen Ende schreit es schrill auf. »Christian ist tot!?«
»Nein … Cookie. Seit über drei Monaten. Mensch, Mama!«
»Puh! Da hast du mich aber erschreckt! Mea, Liebes, tut mir leid, dass ich das kurzfristig vergessen habe, ist mir sehr unangenehm. Ich glaube, ich werde alt. Kommt ihr jetzt am Sonntag zum Essen?«
»Ich frag mal Chris.« In dem Moment fällt mir ein, dass der Sonntag bereits verplant ist »Ach je, Mama, nicht nur du bist vergesslich. Ich habe schon was anderes vor und …«
»Schade, ich habe Unmengen Rostbraten besorgt. Du weißt doch, dein Vater und du, ihr liebt meinen Zwiebelrostbraten. Und im Gefrierschrank ist kein Platz mehr. Und wenn Christian nicht will, kommst du eben allein!«, bestimmt sie, wie es eben so ihre Art ist.

Wenige Minuten später ist die Schraube fest, der Unterschrank eingeräumt und das Werkzeug verstaut.
Und nun ab ins Wasser. Das etwas größere Planschbecken will endlich eingeweiht werden. Vor drei Wochen haben Chris und ich das Wasserbecken aufgestellt, seitdem hat es geregnet. Bis vorgestern.
Mit einem Schüsselchen Haferkekse in der Hand gehe ich hinaus – und erstarre.
Wo ist das Wasser? Ah, im Rasen.
Ich rekapituliere: Unter der Spüle war vorhin welches, wo keins hingehört, dafür ist im Pool jetzt zu wenig davon. Das nennt man dann wohl ausgleichende Kraft. Ist ein Naturgesetz. Gibt es an einer Stelle von etwas zu viel, muss es an anderer weggenommen werden.
Ob ein Loch im Kunststoffboden ist? Vielleicht haben wir beim Aufstellen ein Steinchen übersehen? Wie auch immer, es ist, wie es ist, und ich habe keine Lust, jetzt auf Löchersuche zu gehen und frisches Wasser einzulassen.
Ich ziehe mich komplett aus, nehme eine kühle Gartendusche und falle in den Liegestuhl. Das Abtrocknen übernimmt die Sonne.
Fest entschlossen, ab sofort die Entspannung einzuläuten, stecke ich gleich zwei Kekse in den Mund und kaue, kaue, kaue. Zwischendurch seufze ich, weil ich mich fühle wie ein Streifenhörnchen mit Wintervorrat an Nahrung in den Backentaschen. Ein trockener Vorrat, sehr trocken. So trocken, dass es staubt. Und was habe ich vergessen? Was zum Runterspülen. Klar, oder?
Tapfer kauend schlüpfe ich in Shirt und Shorts und hole mir eine Flasche Wasser. Auf dem Weg zurück zur Sonnenliege nehme ich ein paar Schlucke, um die Sahara in meiner Mundhöhle in eine Oase zu verwandeln.
Endlich! Die Lider gesenkt, die Flasche links neben mir auf dem Boden, die Keksschüssel rechts, atme ich entspannt ein und aus, und ein – und aus.
Und ich frage mich, ob ich weiterhin in einem Steuerbüro tätig sein möchte. Es ist zwar nur ein Teilzeitjob mit vier Stunden täglich, freitags habe ich frei, aber immerhin generiert es ein eigenes Einkommen – auch wenn ich meinen ursprünglich gelernten Beruf so trocken finde wie an Sand geleckt.
Eigentlich habe ich Tierarzthelferin werden wollen. Doch meine Eltern wollten davon nichts wissen und meinten damals: »Nix da, du lernst was Gescheites!« Daraufhin hat mir mein Vater einen Ausbildungsplatz bei seinem Freund in der Steuerkanzlei Miltenberg & Partner besorgt.
Ich kaue auf einem Keks herum, spüle mit Wasser nach und starre ins Leere. Vielleicht sollten wir uns wieder einen Hund anschaffen? Aber damit will ich noch warten, Cookie, mein süßes Maltesermädchen, ist noch nicht ganz aus meinem Herzen draußen. Wird sie es jemals sein? Nein, wahrscheinlich nicht. Also warum warten? Ich seufze und finde keine Antwort darauf. Vielleicht sollte ich mich selbstständig machen? Aber womit? Sobald ich die ultimative Idee habe, denke ich eingehender darüber nach.
Ich ziehe Resümee: Ich bin 32 Jahre alt, ausgebildete Steuerfachgehilfin, ehemalige Hundebesitzerin und Ehefrau eines erfolgreichen und gutaussehenden Mannes. Christian war meine erste – und letzte – große Liebe. Kurz nach der Ausbildung haben wir geheiratet und ich wollte so schnell wie möglich Mutter werden.
Das will ich immer noch. Bis heute hat es nicht funktioniert. Bei mir ist alles in Ordnung, bei Chris auch. Es klappt trotzdem nicht. Nun, vielleicht gibt es eben eine Zeit für die Dinge, und das Wunschkind kommt dann, wenn es sein soll. Allerdings könnte es sich ein bisschen beeilen, ich werde ja nicht jünger. Christian auch nicht. Mit seinen 41 Jahren sollte er sich ranhalten, sonst fragen die Mitschüler unserer zukünftigen Tochter, warum sie von ihrem Opa abgeholt wird.
Es darf natürlich auch ein Sohn sein. Am besten beides. Zwillinge wären auch okay. In jedem Fall sollten unsere Kinder altersmäßig nicht so weit auseinanderliegen. Höchstens zwei Jahre.
Eine leichte Sommerbrise pustet mir tröstend um die Wangen, und ich frage mich, wie es wäre, von hier aus meinen Kindern beim Spiel zuzusehen. Schaukelnde und vor Freude jauchzende, dunkelhaarige Mädchen mit Zahnlücken und wissbegierig in die Welt schauenden, rehbraunen Augen. Ich verspüre etwas, das sich anfühlt wie Sehnsucht, und kneife die Lippen zusammen.
Der Haken ist: Um ein Baby zu machen, sollte man zur richtigen Zeit miteinander schlafen. Und die wäre die nächsten drei bis fünf Tage. Am ersten Tag des Eisprungs allerdings ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass es klappt. Also heute!
Sex …
Ich lache kurz auf, blicke über mein Bäuchlein hinweg zu den nicht manikürten Zehennägeln, stecke mir den letzten Keks in den Mund und wackle mit den Zehen. Hallo, ihr Süßen, heute werdet ihr hübsch gemacht.
Und während ich so vor mich hin zehwackele, stellen sich mir verschiedene Fragen: Warum sind meine Beinhaare eigentlich tiefschwarz, wenn doch die restliche Behaarung eher ins Straßenköterblond geht? Wieso überrollt mich unbändige Gier auf Süßkram ausgerechnet dann, wenn ich beschließe, eine Weile auf Zucker zu verzichten? Weshalb verspüre ich nur ein verstärktes Kuschelbedürfnis anstatt zügellose Lust auf Sex mit meinem Mann?
Egal. Der Eisprung lässt wenig Spielraum, die Abendplanung steht.
Und wer weiß, vielleicht bekommt Chris angesichts seiner frisch manikürten und wohlduftenden Frau zur Abwechslung mal wieder Lust auf sie? Im besten Falle steckt er mich damit an

Frei geliebt


Mann am Rand des Wahnsinns

Sam? Hallo? Ich habe dich etwas gefragt!« Anitas Stimme dringt zu mir durch. Anstatt bäuchlings auf der Trainingsmatte zu liegen und den vorderen Oberschenkel zu dehnen, wie ich es ihr gezeigt habe, sitzt sie jetzt stirnrunzelnd vor mir und nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche.
»Verzeih. Was hast du gefragt?«
Heute bin ich nicht bei der Sache und kann es kaum erwarten, aus dem Studio zu kommen. Ich muss mich sogar beherrschen, nicht alle paar Minuten auf die Uhr zu sehen.
»Ob wir uns heute Abend treffen. Am Neckar ist eine After-Work-Party mit Foodtrucks. Danach könnten wir zu dir oder zu mir. Übrigens hatte ich dich letzte Woche schon gefragt. Auf eine Antwort warte ich immer noch.« Sie schiebt die Unterlippe vor, als wäre sie ein kleines Mädchen und keine aufreizende Frau Ende zwanzig.
»Oh, ja, stimmt.« Verlegen reibe ich mir den Nacken und grinse schuldbewusst. »Tut mir leid, Anita, heute geht nicht. Ich bin das ganze Wochenende verplant.«
Das ist nur die halbe Wahrheit. Ich habe ein Date – und zwar mit der wichtigsten Frau meines Lebens. Aber das muss und will ich Anita nicht auf die Nase binden. Es geht sie schlichtweg nichts an.
Zur Hölle, warum wollen Mädels immer gleich mehr, wenn man ein, zwei Mal mit ihnen im Bett gewesen ist? Schon vor dem ersten Mal habe ich Anita gegenüber mit offenen Karten gespielt und ihr gesagt, dass ich keine feste Beziehung anstrebe. Sie hat es akzeptiert. Warum klebt sie mir dann ständig am Shirtzipfel, will mich zu irgendwelchen Freizeitaktivitäten überreden? Und sie hat nach meiner Telefonnummer gefragt. Die gebe ich jedoch ausschließlich weiblichen Personen, die in unmittelbarem Verwandtschaftsverhältnis zu mir stehen.
Ich könnte mich ohrfeigen, gegen meine Prinzipien mit einer Frau geschlafen zu haben, die Mitglied im Fitnessstudio ist. Ein Mann sollte nicht im beruflichen Umfeld vögeln. Aber Anita hat alle Geschütze aufgefahren, mich weichzukochen. Herrje, ich bin auch nur aus Fleisch und Blut und irgendwann schwach geworden, als ich sie zufällig in einer Kneipe getroffen hatte. Trainiert sie im Studio, gibt sie alles, den Mann in mir anzusprechen und die Testosteronausschüttung zum Überlaufen zu bringen. Ihr Werkzeugkoffer besteht aus engen Sporttights, einem Bustier, das mehr zeigt, als es verbirgt, ihrer braun gebrannten, schweißglänzenden Haut, dem Spiel ihrer Muskeln. Nicht zu vergessen das kehlige Stöhnen, wenn ich ihr die Hantelstange mit den Gewichten abnehme und sie sich dabei lasziv über die vollen Lippen leckt. Das kann einen Mann schon an den Rand des Wahnsinns treiben.
»Verplant, ja?« Sie kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Hast du eine Andere?«
»Anita …«, antworte ich und seufze. »Mach es uns doch nicht so schwer. Zwischen uns wird es keine Beziehung geben. Wie oft …«
Sie winkt brüsk ab. »Schon klar, habe verstanden.« Der angeschlagene Tonfall ist ähnlich gefroren wie ihr Gesichtsausdruck, und ich habe das Bedürfnis, sie zu besänftigen.
»Hör zu, es war wirklich schön mit dir, aber es bringt uns beiden nichts, wenn einer weniger empfindet als der andere, oder?«
»Ja … Mag sein. Ja …« Sie zuckt mit einer Schulter und versucht so etwas Ähnliches wie ein Lächeln in ihre Mimik zu bringen.
An mir nagt das schlechte Gewissen. Ich wollte ihr nicht wehtun, aber offenbar reicht es nicht, wenn man die Dinge gleich zu Beginn klarstellt.
Sex ohne tiefere Gefühle funktioniert bei Männern, zumindest bei den meisten. Frauen tendieren dazu, das Herz mit ins Spiel zu bringen.
»Anita, es tut mir leid. Ich … ich wollte dir wirklich nicht weh…« Ich unterbreche, denn ein älterer Mann gesellt sich zu uns und tupft sich die Stirn mit einem Handtuch ab.
»Hallo, Trainer. Darf ich was fragen? Oh, ich störe doch nicht?«
»Nein, schon okay«, entgegne ich ein klein wenig dankbar für die Unterbrechung des eher unangenehmen Gespräches mit Anita, und stehe auf. »Hallo, ich bin Sam. Wie kann ich helfen?«
»Hi Sam, ich bin Frank. Wo ist eigentlich der Unterschied zwischen Sit-ups und Crunches? «
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich Anita ebenfalls erhebt. Mit kantigen Bewegungen nimmt sie ihre Flasche und das Handtuch und wirft mir einen giftigen Blick zu. Dann geht sie mit leicht nach oben gerecktem Kinn und energischen Schritten Richtung Ausgang.
»Nun, beide Übungen werden auf dem Rücken liegend und mit aufgestellten Beinen ausgeführt. Beim Crunch hebst du den Oberkörper nur so weit vom Boden hoch, dass der untere Rücken auf der Matte bleibt. Beim Sit-up setzt du dich auf. Für die Bauchmuskeln sind Crunches besser geeignet, weil sie den Hüftbeuger nicht so stark belasten.«
Frank bedankt sich und ich sehe auf die Uhr an der Wand.
Feierabend.
Und Anita ist nirgends in Sichtweite.

Eine halbe Stunde später bin ich frisch geduscht und stopfe die Trainingsklamotten in die Tasche.
Heute ist offenbar nicht mein Tag. Erst kündigt sich völlig überraschend Ivy an und dann legt mir Anita eine Beinahe-Szene hin. Ich bin keiner dieser gefühlskalten Egomanen, die Frauen für ihre Zwecke benutzen. Ich werde mit ihr reden müssen. Und ich darf nicht mehr mit ihr schlafen. Ehrlich gesagt ist mir seit vorhin auch die Lust dazu vergangen.
Aber wie sagt man doch? Es kann nur noch besser werden.
Mit Schwung schultere ich die Tasche und verlasse das Studio durch den hinteren Ausgang. Am Parkplatz treffe ich Lukas, der seinen Wagen neben meinem Jeep geparkt hat und in diesem Moment aussteigt. Er hat heute die Abendschicht im FITS, der Fitnessstudiokette Fit & Strong.
»Hey, Sam. Eben ist diese Anita fast in mich reingefahren und hat ausgesehen, als wolle sie vor Wut ins Lenkrad beißen. Hast du ihr einen Korb gegeben?«
»Frag nicht«, knurre ich und streiche mir mit einer Hand über den Kopf.
»Sie ist echt heiß, ich verstehe nicht, warum du nicht …«, setzt Lukas an, doch ich unterbreche ihn.
»… einfach nur ab und zu mit ihr vögelst? Weil ich kein Arschloch bin, Lukas. Frauen wollen immer gleich mehr. Ich sage ihnen von Anfang an, was Sache ist. Auch Anita habe ich gesagt, dass sich zwischen uns nichts Festes entwickeln wird.«
»Was sie dir nicht abnimmt. Kein Wunder, andere Männer würden sich die Finger nach ihr lecken. Sie hat ein bisschen was von einer Femme fatale.« Sam klopft mir auf die Schulter. »Wenn ich nicht gebunden wäre … Nun, sie wird drüber hinwegkommen und sich schnell mit einem anderen trösten. Da habe ich keine Zweifel. Und du lass künftig besser die Finger von unseren Kundinnen, okay? Das bringt nur Scherereien. So, ich muss rein. Schönes Wochenende. Hast du was vor?«
»Jap, ein Date …«, antworte ich ausweichend. Lukas arbeitet seit knapp drei Monaten im FITS, wir haben uns angefreundet und gehen gelegentlich miteinander joggen. Mehr nicht. Ich gedenke nicht, mein Privatleben vor ihm auszubreiten.
»Kenne ich sie?« Er holt seine Sporttasche aus dem Kofferraum.
Ich schüttele den Kopf. »Nein, sie ist von weiter angereist.«
»Eine alte Jugendliebe?«
»So in etwa.«

Frei geliebt


Sahne mit ein bisschen Kuchen drunter

Es ist früher Nachmittag. Ich lenke Murmel ins Kornmarkt-Parkhaus in Heidelberg – und vor mir fährt ein Auto aus einer Parklücke.
Glück muss man haben.
Murmel ist ein schnuckeliges Fiat Cabrio. Vor fünf Jahren habe ich mich auf der Stelle in das kleine, weiße Auto mit dem roten Faltdach verliebt und kurz darauf ist es meins gewesen. Murmelchen ist das perfekte Stadtauto und reicht mir völlig. Wenn wir größere Dinge transportieren müssen, nehmen wir Christians SUV.
Auf dem Weg nach draußen zupfe ich mein beiges Shirt zurecht, das hervorragend zum luftigen Rock in einem etwas helleren Farbton passt, und überquere den belebten Platz unterhalb des Schlosses.
Chris ist erst gegen Mittag aufgestanden und während des späten Frühstückes ist er ziemlich einsilbig gewesen. Begründung: Kater von gestern und weil er gedanklich in einem beruflichen Projekt stecke und er auf seinem Tablet die aktuellen Nachrichten verfolgen will. Dafür hätte er unter der Woche so wenig Zeit.
Für mich hat er auch wenig Zeit …
Ich muss Kirsten und Nadine dankbar sein, dass sie das Treffen heute vorgeschlagen haben. Wäre ich nicht hier, würde ich aller Voraussicht nach zu Hause um Chris herumschleichen und erfolglos versuchen, mit ihm zu reden.
Ich bin fest entschlossen, den Rest des Tages nicht mehr an meine Ehe zu denken, und freue mich auf einen entspannten Nachmittag. Wir drei kennen uns seit der Schulzeit. Nadine ist Mutter einer mittlerweile zwölfjährigen Tochter und ich beneide sie darum. Sie hat all das, was ich mir erträume: ein wunderbares Mädchen, einen liebevollen Mann, regelmäßig Sex und einen erfüllenden Teilzeitjob. Nadine ist Lehrerin für bildende Kunst an einer Grundschule und hat gerade Sommerferien. Ihre Tochter Ella ist für vier Wochen in Reiterferien und Mama genießt die freie Zeit gemeinsam mit ihrem Ehemann. Sie unternehmen unglaublich viel zusammen und haben – wie sie mir erzählt hat – endlich mal wieder hemmungslosen Sex im ganzen Haus.
Davon kann ich nur träumen.
Kirstens hennaroter Haarschopf leuchtet mir schon von Weitem entgegen. Sie steckt in einem luftigen, schwarzen Kleid mit Spaghettiträgern. Mal wieder schwarz. Das macht schlank, sagt sie.
Kirsten winkt mir zu. »Huhu, Mea, hier sind wir!«
Na prima, jetzt wissen auch viele andere, wie ich heiße.
Na und? Ich sollte mich nicht so wichtig nehmen.
»Ich hab euch schon gesehen, du musst nicht über den ganzen Platz rufen«, zische ich trotzdem und plumpse in den Stuhl.
Nadine verdreht gespielt empört die Augen. »Du kennst sie doch. Die Hirn-Mund-Schranke ist hin und wieder defekt«, sagt sie und schiebt die Sonnenbrille auf ihre raspelkurzen, fast weißblonden Haare. Im Gegensatz zu Kirsten trägt sie bunt: zitronengelbes Shirt, himmelblaue Sommerhose und weiße Flip-Flops mit gelber Riesenblume.
Kirsten grinst breit. »Entschuldige, Mea. Das mit der Schranke trifft’s ganz gut. Hast du noch einen Parkplatz bekommen oder bist du mit den Öffentlichen gefahren?«
»Parkhaus. Ich hatte Glück, vor mir ist einer rausgefahren.«
Nadine verdreht gespielt die Augen. »Samstag halt, aber was soll man machen? Unter der Woche ist die Zeit immer knapp. Und du gefällst mir heute nicht. Hast du etwa geweint? Ist was mit Chris oder sind die Zwiebeln schuld?«
Kirsten steigt gleich drauf ein. »Würde mich nicht wundern. Bei euch ist die Luft raus. Sag ich ja schon die ganze Zeit.«
Nadine wirft ihr einen messerscharfen Blick zu. »Nichts ist raus, Kirsten. Lerne du erst mal einen Mann kennen, heirate ihn und dann unterhalten wir uns zehn Jahre später. Mea und Chris müssen eben nur mehr Gemeinsamkeit leben, wieder ein bisschen Pep in die Ehe bringen.«
Ich blase die Wangen auf und blinzele gegen die Sonne. Mist, Sonnenbrille im Auto vergessen.
»Also doch keine Zwiebeln?«, will Kirsten wissen.
»Nein, Chris mag die nicht im Kartoffelsalat«, informiere ich knapp. »Aber ich musste noch die Steaks für morgen einlegen.«
Kirsten seufzt gespielt auf, als wäre jedes Wort bei mir wie Wasser in den Neckar getragen. »Lass mich raten: Angussteaks. Und für die Babys bist du extra nach Brensbach zum Angushof gefahren.«
Ich nicke, presse die Lippen aufeinander und suche in der Handtasche meine Sonnenbrille. Normalerweise trage ich immer eine mit mir herum. Heute nicht …
Nadine sieht mich skeptisch an. »Seit wann magst du Kartoffelsalat?«
»Seit noch nie, daran hat sich nichts geändert.« Meine Stimme klingt schnippisch. Ich bin sauer. Auf Chris. Und auf mich auch. »Ich habe vergessen, dass wir morgen zum Essen eingeladen sind, und jetzt will mein Ehemann nicht mit.«
»Ist das nicht ein ganzes Stück weg?«
»Meine Eltern?«
»Nein, Brensbach. Sorry.«
Ich zucke mit den Schultern. »Ungefähr eine Stunde, warum?«
»Und heute hast du für Chris vorgekocht?« Nadine zieht die Brauen fast bis zum Haaransatz hoch.
Kirsten winkt ab. »Na logisch hat sie, unsere Ich-kümmere-mich-Mea. Am Ende würde der hochwohlgeborene Chris noch verhungern. Lass stecken, Nadine! Mea hats voll drauf, sich selbst hintanzustellen. Hauptsache, allen anderen gehts gut.«
»Du redest Müll! Im Übrigen musst du nicht über mich in der dritten Person sprechen. Ich sitze am Tisch, falls dir das nicht aufgefallen ist! Und mein Gehör funktioniert hervorragend.«
»Ist doch wahr! Mea, du machst alle glücklich, außer dich selbst.«
»Deine Wahrnehmung, nicht meine. Themawechsel, bitte!«, antworte ich viel zu barsch und versuche, etwas milder zu klingen.
Fakt ist: Ich will jetzt garantiert nicht über meine Ehe reden. Erstens, weil ich vergangene Nacht zunächst verstoffwechseln muss, und zweitens, weil das Thema die letzten Monate ständig auf den Tisch kommt.
Ich atme tief durch, lächle und deute auf ihre Gläser. »Was trinkt ihr da?«
»Pfirsich-Eistee. Sehr erfrischend bei der Hitze.« Kirsten legt mit schuldbewusstem Blick ihre Hand auf meine. »Verzeih, Mea, ich plappere immer gleich raus, was ich denke. Kennst mich doch. Aber ich arbeite dran, Freundinnen-Ehrenwort. Und ganz ehrlich? Du bist so eine hübsche und herzliche Frau. Dein Chris hat dich gar nicht verdient.«
Meine Lider füllen sich mit Wasser, ohne dass ich sie daran hindern kann. Und ausgerechnet jetzt will der Kellner meine Bestellung aufnehmen.
»Was darfs sein?«
Liebe, kuscheln, heißen Sex und ein Baby?
Nur mit größtmöglicher Beherrschung und ohne heulend über dem Tisch zu hängen, schaffe ich es, mir einen Kaffee, Eistee und ein Stück Schokoladenkuchen zu bestellen. Mit Sahne. Viel Sahne. Also eigentlich Sahne mit ein bisschen Kuchen drunter. Ich brauche das jetzt. Unbedingt. Mein Moppelbauch fordert das lautstark ein. Ansonsten, droht er, würde er postwendend auf rigorose Übelkeit umstellen.
Vielleicht brauche ich auch nur eine gepflegte Dosis Zucker, um einen halbwegs gefestigten, emotionalen Zustand herzustellen.
Freundinnen können trösten – Zucker ebenso. Ich bekomme somit die doppelte Dosis. Das Universum liebt mich.
Nadine reicht mir unter dem Tisch ein Taschentuch. »Ihr habt eine kurzfristige Dürrephase, Süße. Kannst du dich noch erinnern, dass ich mit Stefan eine ähnliche Krise hatte?«
Ich nicke, tupfe mir die Feuchtigkeit unter den Tränen weg und putze mir die Nase. »Ja, da war deine Ella noch ein Baby und alles war neu und …«
»… ich hatte eine Scheißangst, dass er fremdgeht. Hat er aber nicht. Er war nur etwas überfordert mit der Verantwortung. Vielleicht geht es Christian ähnlich? Also prophylaktisch, mein ich. Er weiß ja, dass du schwanger werden möchtest.«
»Kann man sich präventiv überfordert fühlen?«, erwidere ich skeptisch und atme einmal tief durch.
»Klar«, antwortet Kirsten. »Warum nicht? Gedanken können Stress auslösen, bevor überhaupt was passiert. Wichtiger ist jedoch, dass du aus diesem mentalen Loch rauskommst und was für deine Seele tust. Du strahlst aus, was du fühlst. Und im Moment fühlst du dich ungeliebt, ungesehen, erbärmlich. Richtig?«
Ich zucke mit den Schultern. Wo bleibt der Kuchen?
Nadine lehnt sich vor, stützt den Ellenbogen auf dem Tisch auf und legt das Kinn in die Hände »Da ist was dran.«
»Toll, und was mache ich jetzt mit dieser Erkenntnis?« Ich nehme mir einen Zuckerstick aus dem Becher, reiße ihn auf und schütte mir das lächerliche bisschen in den Mund.
»Hey, du Süßjunkie!« Kirsten schiebt lachend den Zuckerbehälter von mir weg. »Drogen sind keine Lösung. Wie wäre es, wenn du beginnst, dich in dir selbst wieder wohlzufühlen und …«
»Boah, bleib mir weg mit diesen Kalendersprüchen. Ich fühle mich wohl! Pudelwohl. Sauwohl. Megawohl!« Zuckerstick auf und rein damit. Verdammt, Kirsten hat recht. »Ehrlich gesagt … Ich fühle mich beschissen.«
»Das lässt sich ändern.« Nadine zupft mich am Zopf. »Du könntest einen neuen Haarschnitt vertragen, und deine Garderobe gehört aufgefrischt. Beige ist so eine Nichtfarbe, finde ich. Also Friseur und shoppen. Du wirst sehen, danach geht’s dir besser. Ich biete mich als Beraterin an und begleite dich. Du bestimmst die Zeit.«
»Süße, deine Haare haben fast den gleichen Ton wie das Shirt, da hebt sich nix ab. Ein paar hellere Strähnen würden dein Straßenköterblond aufpeppen, glaub mir. Blonde Strähnchen machen schöne Reflexe und sehen frisch aus. Und dann lachst du dir einen netten Kerl an und flirtest ein bisschen. Das ist gut fürs Ego. Idee! Du könntest Christian eifersüchtig machen. Männer sind Jäger und gefangene Beute ist uninteressant.«
»Äh … Nein? Ich lache mir überhaupt nichts an. Nicht mal Herpes.« Überrumpelt rücke ich mir den Zopf zurecht.
Nadine legt den Kopf schief. »Das mit der Eifersuchtsnummer ist eine blöde Idee. Funktioniert sowieso nie. Was hältst du von einem Fitness-Studio, in dem du ein- bis zweimal pro Woche mit uns zusammen trainierst? Danach gehen wir in die Sauna und du könntest dich massieren lassen. Das ist wie streicheln, nur ein bisschen fester.«
»Ho, langsam, langsam. Ich will nicht in so ein Studio! Neben all diesen trainierten Körpern komme ich mir vor wie ein Wattebausch zwischen Q-Tipps!«
Kirsten winkt ab. »Du lieber Himmel, du bist doch nicht dick. Nur ein bisschen aus der Form geraten. Sieh mich an!« Sie streckt sich und deutet auf ihre Mitte. »Alles sitzt genau da, wo es hingehört. Außerdem gehts dir nur am Anfang so. Ich spreche aus Erfahrung. Und jetzt gehe ich zweimal die Woche. Okay, manchmal nur einmal oder gar nicht, aber hey …« Sie deutet mit den Fingerspitzen seitlich an sich herunter. »Das ist kein Übergewicht, das sind Kuschelzonen. Im Übrigen ist diese göttliche Oberweite mein Markenzeichen, das wird nicht weniger. Gott bewahre, wenns so wäre! Und der Rest fühlt sich mit der Zeit fester an. Glaub mir, ich könnte mit den Pobacken Nüsse knacken. Huch, das reimt sich, also stimmts.« Sie lacht und ihre Augen lachen mit. Und ob ich will oder nicht, ich muss ebenfalls lächeln.
Nadine stupst mich an. »Na, geht doch. So gefällst du mir gleich besser. Ich schlage vor, wir fangen nächste Woche mit dem Training an. Einverstanden?«
»Ja, warum eigentlich nicht?«, ergebe ich mich seufzend. Gegen die geballte Freundinnen-Power bin ich machtlos. Wahrscheinlich ist ein regelmäßiges Muskeltraining besser als notorisch kekskauend auf der Gartenliege zu brutzeln. Und höchstwahrscheinlich wird Chris mein verändertes Äußeres bemerken und es könnte ihm gefallen.
»Oha!« Kirsten zieht das O in die Länge, nimmt die Sonnenbrille ab und starrt an mir vorbei.
Wir folgen ihrem Blick. Dazu muss ich den Kopf so weit drehen, dass es mir im Nacken zieht. Unser Tisch steht am äußeren Rand des Bistros und ziemlich nahe an der nebenan liegenden Gelateria.
»Und was ist da so Oooo?«, will ich wissen und kneife die Lider etwas zusammen. Als ob mir das helfen könnte, besser zu sehen. »Eine Eisdiele, Menschen, die anstehen. Was daran ist Oha?«
»Mister Sssexy«, haucht Kirsten, seufzt sehnsüchtig auf und nippt am Eistee.
Ich drehe mich im Stuhl um. Die Schlange vor der Eisdiele ist lang und ich suche mit den Blicken nach einem männlichen Model, dessen Erscheinung Nadines Seufzer gerecht werden könnte, und arbeite mich von hinten zum Anfang der Schlange durch: eine Mutter mit einem Jungen, der gerade so laufen kann, zwei Frauen mittleren Alters und ein dunkelhaariger, schlanker Mann mit Handy am Ohr. Er ist attraktiv, aber höchstens zwanzig Jahre alt. Den können sie nicht meinen. Am Ende der Schlange streitet sich ein bierbäuchiger, bärtiger Riesenkerl mit seiner Freundin. Gott, der ist bestimmt zwei Meter groß. Seine Liebste wirft ihm just im Moment einen giftigen Blick zu, macht zackig auf dem Absatz kehrt, und er folgt ihr wie ein Hündchen, das verbotenerweise vom Tisch genascht hat.
Somit wird die Sicht frei auf einen Mann, der mir überraschenderweise auf der Stelle den Atem nimmt. Dabei mag ich solche Sieh-her-jetzt-komm-ich-Typen eigentlich nicht.
Der athletische, tätowierte Hüne hat eine schöne, etwas dunklere Hautfarbe, unerwartet helle Augen, trägt eine löchrige Jeans, Sneakers und ein schwarzes Muscle-Shirt. Die Tattoos bedecken die Schulterblätter und ziehen sich über die Arme hinunter bis zu den Handgelenken. Sieht interessant aus, aber ich stehe nicht so auf diese Art dauerhaften Schmuck. Auf Männer mit Zöpfen oder Dutt ebenfalls nicht. Ich bevorzuge eine ordentliche Kurzhaarfrisur. Nicht zu kurz, nicht zu lang, so wie die von Christian.
»Sie ist auch nicht immun, dachte ich es mir doch«, höre ich Nadine sagen.
»Quatsch«, entgegne ich halbherzig protestierend. »Meinst du etwa den tätowierten Athleten? Ja? Okay … Wer ist das? Ein männliches Model? Ein Captain-Jack-Sparrow-Verschnitt ohne Piratenhut? Ein Indianer aus dem Stamm der Sioux mit Dreitagebart?«
»Weder noch. Das ist Sam«, stellt Kirsten klar. »Außerdem darf man Indianer nicht mehr sagen. Wenn schon, dann: ein Mann eines der indigenen Völker Nordamerikas, ein First Nation oder ein Native American.«
»Du veräppelst mich …«
»Ein bisschen schon. Aber Sam ist nur zur Hälfte Amerikaner, habe ich gehört.« Kirstens Blick bekommt etwas Träumerisches. »Seine Mutter ist Hawaiianerin, daher dieser leckere Hautton. Da möchte man zu gern Sahne draufsprühen, oder? Ach, was rede ich, dieser Traum von Mann ist unerreichbar. Ich kenne ihn aus dem Fitness-Center. Sam ist der Cheftrainer.«
»Ja, so sieht er auch aus«, murmele ich und muss immer wieder zu ihm hinsehen, wie zu einem Unfall. Man will nicht gucken, kann aber nicht anders.
Ich reiße mich zusammen und drehe dem hawaiianischen Cappuccinotörtchen den Rücken zu.
»Keine lässt er an sich ran, sag ich euch.« Kirsten beugt sich vor und dämpft ihre Stimme, als solle niemand zufällig mithören. »Letztes Jahr hat er mir den Trainingsplan erstellt, und ich habe alles aus der Flirtkiste geholt, was möglich ist. Keine Reaktion. Kannst du dir das vorstellen!? Bei mir? Ja, ich weiß. Ein Ding der Unmöglichkeit. Dachte ich auch. Aber bei ihm tut sich nichts. Nada. Niente. Tote Hose! Und du weißt, bei mir hat noch niemand Nein gesagt. Das lässt nur einen Schluss zu: Er steht auf Männer.«
Nadine kichert. »Was für eine Verschwendung, hm? Und nur, um das mal klarzustellen: Er sieht heiß aus, ja, aber ich weiß, was ich an meinem Stefan habe. Nicht, dass ihr denkt, ich …«
»Niemals«, unterbrechen wir sie fast einstimmig und kichern. Plötzlich richtet Kirsten sich gerade und winkt an mir vorbei. »Oh, er sieht her. Huhu, Sam!«
Nein, ich drehe mich jetzt nicht um. Ich will Kuchen mit Sahne. Zum Henker, warum dauert das so lange!?
Kirsten wirkt wie ein verliebter Teenager, und gerade als ich ihr das mitteilen will, höre ich ein warmes, dunkles »Guten Tag, die Damen« hinter mir.
Wow! Der Klang dieser Stimme vibriert in mir nach wie der Bass auf einer Techno-Dance-Night, und ich wende mich um, obwohl ich das gar nicht will.
Ah, Mister Hawaii steht jetzt direkt neben mir. Schnell zucke ich wieder in Ausgangsposition. Körper zum Tisch gewandt, Blick geradeaus. Zu schnell. Zu schwungvoll.
»Eistee, Kaffee und Scho…, oh!«
Das war der Kellner. Mit meiner Sahne und dem bisschen Kuchen darunter.
Letzterer klebt mir sichtbar am Shirt.
»Verzeihung«, nuschelt der Kellner fahrig und hebelt den Kuchen mit der Gabel von meiner Brust zurück auf den Teller. »Sie bekommen selbstverständlich einen neuen.«
Ach ehrlich? Ich hätte ihn jetzt vom Shirt geleckt …
Der Schokokuchen hinterlässt einen dunkelbraunen Riesenfleck. Genauer betrachtet drängt sich sogar ein Stillleben auf. Titel: Penis an einem Klecks von Sahne.
Wo ist ein Erdloch, wenn man es mal braucht?
Nadine wirft mir geistesgegenwärtig eine Serviette und zwei Zuckersticks zu, Kirsten bekommt von alldem nichts mit. Wie hypnotisiert starrt sie auf ihren Sam. Der allerdings glotzt mir auf den Kuchensahnefleck wie ein Esel auf die Karotte, grinst breit, räuspert sich und wendet sich endlich von mir ab.
»Hallo, Kirsten, ich habe dich schon eine Weile nicht mehr im Studio gesehen. Mach doch einen Termin mit mir, um deinen Trainingsplan zu aktualisieren.«
Meine Freundin wird selten rot. Genau genommen nie. Demzufolge beobachte ich verblüfft, wie ihre Wangen schlagartig die Farbe wechseln von einem sommerlichen Bronzeton zu Ketchuprot.
»Ähm, ja, klar. Total gerne. Am besten samstags. Ich kann nur …«, stammelt sie und stockt, als eine blutjunge Grazie zu uns tritt und sich bei Sam einhängt.
»Da bist du ja. Verzeih, es ist ein paar Minuten später geworden«, flötet es glockenklar, ich unterbreche meine Tätigkeit, das Ergebnis des Kuchenunfalls vom Shirt zu tupfen, und blicke hoch.
Himmel, ist die jung! War ja klar, oder? Ein Mann wie er kann sich die Kirschen von der Torte pflücken. Immerhin wäre somit bewiesen, dass er dem weiblichen Geschlecht zugetan ist und nicht dem eigenen, wie Kirsten vermutet.
Sam gibt der Schönheit mit den unverschämt langen, brünetten Locken das Eis. »Pistazie und Stracciatella. Wie immer, Süße.«
Wie immer, Süße, äffe ich in Gedanken nach.
»Du bist der Beste!« Sie strahlt ihn und anschließend uns an. »Hallo, ich bin Ivy. Ihr seid Freundinnen von Sam?«
»Schön wär’s. Ich meine, nicht wirklich«, quetscht Kirsten hervor. »Er ist unser Trainer.«
»Euer Trainer«, werfe ich ein.
»Ist er nicht für uns alle da?«, bemerkt Nadine.
»So ist es«, bestätigt Sam lachend, wünscht uns noch einen angenehmen Tag und schlendert Arm in Arm mit seiner Freundin davon.
Kirsten legt die flache Hand aufs Dekolleté. »O. Mein. Gott. Er sieht so unglaublich gut aus! Was für ein Body! Das ist ein Kerl, oder? Oder!? Guckt euch mal um, was hier so rumläuft. Verweichlichte Smoothieschlürfer mit Elektroscooter und Dutt. Wo bitte sind die Gary Grants, Jasons Stathams und Channing Tatums?«
»Alle in festen Händen, so wie dein Sam. Und so wie es aussieht, steht er definitiv nicht auf Männer«, sage ich und seufze dem Kellner entgegen. »Außerdem haben alle Typen, die du aufgezählt hast, keine langen Haare.«
Endlich Kuchen!
Nebenbei frage ich mich, wie man auf Machos wie Sam abfahren kann. Sein Äußeres schreit förmlich nach Aufreißer. Der lässt garantiert nichts anbrennen und vögelt jede, die nicht bei drei die Beine zusammenkneift. Ob er sich von seinem Häschen die Haargummis ausleiht?